Altersarmut – Denkfehler
Axel Börsch-Supan, Tabea Bucher-Koenen, Johannes Rausch
Munich Center for the Economics of Aging (MEA) des Max-Planck-Instituts für Sozialrecht und Sozialpolitik (MPISOC)
München, 13.4.2016
Das Problem der Altersarmut bedarf einer erhöhten Aufmerksamkeit insbesondere in Zeiten mit sinkendem Rentenniveau. Der Anteil der Grundsicherungsempfänger, die über 65 Jahre alt sind, ist in den vergangenen Jahren sowohl anteilsmäßig als auch absolut deutlich gestiegen. Zudem wird das Risiko der Altersarmut auch in Zukunft aufgrund der demographisch bedingten Absenkung des Rentenniveaus steigen. Allerdings wird die Debatte über Altersarmut in Deutschland sehr emotional geführt. Da ist es nicht verwunderlich, dass eine Prognose, die 50% Altersarmut vorhersagt, ein entsprechendes Echo erfährt. Die vom WDR präsentierte Rechnung weist indes leider an mehr als einer entscheidenden Stelle grobe Denkfehler auf. Einer der zentralen Fehler ist es, dass die Rechnungen auf der Basis des derzeitigen Einkommens und nicht des Lebenseinkommens durchgeführt werden.
Die Berechnungen des WDR beruhen auf einer aktuellen Statistik der Bundesagentur für Arbeit, die die Verteilung der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten nach Einkommensklassen darstellt. Ausgehend von einem Grundsicherungsniveau von 840 Euro, wird berechnet, wie hoch das durchschnittliche Einkommen eines sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten sein müsste, der 40 Jahre lang Beiträge bezahlt, um eine Rente zu bekommen, die mindestens auf Grundsicherungsniveau liegt. Auf Basis des aktuellen Rentenwertes in Westdeutschland in Höhe von 29,21 Euro, ergibt sich, dass das durchschnittliche monatliche Bruttoentgelt 2097 Euro betragen müsste. Soweit ist die Berechnung plausibel und nachvollziehbar.
Problematisch wird es bei der dann folgenden Überlegung. Nach der Tabelle der Bundesagentur für Arbeit erhalten derzeit ca. 38,5% der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ein durchschnittliches monatliches Entgelt, das unter dieser Grenze von 2097 Euro liegt. Dies bedeutet, dass nach der Berechnungsmethode des WDR bereits jetzt 38,5% der Sozialversicherungspflichtigen ein Einkommen haben, das bei Anwendung des aktuellen Rentenwertes zu einer Rente unter der Armutsgrenze führt. Folgt man der Schlussfolgerung des WDR, so wären also bereits heute 38,5% der Sozialversicherungspflichtigen armutsgefährdet. Tatsächlich bezogen Ende 2013 aber nur ca. 3% der über 65-Jährigen Grundsicherung im Alter. Die Rechnung des WDR kann also nicht stimmen. Aber wo liegt der Fehler?
Es sind gleich mehrere. Der größte Denkfehler der WDR-Berechnungsmethode liegt darin, dass die Rente komplett statisch auf der Basis des derzeitigen Einkommens und nicht dynamisch gemäß der durchschnittlichen Einkommensentwicklung über das gesamte Erwerbsleben berechnet wird. Unter den derzeit wenig Verdienenden sind viele, die später im Leben deutlich mehr verdienen werden, etwa Azubis und Studenten. Zieht man beispielsweise von der WDR-Berechnung nur die Azubis ab, die mit hoher Wahrscheinlichkeit nach Ausbildungsabschluss ein höheres Gehalt als ihr Ausbildungsgehalt bekommen, so fällt der Anteil der Sozialversicherungspflichtigen, die ein Einkommen unterhalb der errechneten Grenze von 2097 Euro verdienen, um ca. 13 %.
Außerdem werden laut WDR geringfügig Beschäftigte als zu 100% von Altersarmut bedroht angenommen. Auch hier sollte differenziert werden, beispielsweise nach Studenten und Schülern mit Nebenjobs, die vermutlich nicht ihr gesamtes Leben auf dem Niveau einer geringfügigen Beschäftigung Rentenansprüche erwerben werden. Zudem werden viele Minijobs neben einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung ausgeübt.
Ein weiteres Problem ergibt sich daraus, dass die WDR-Methode das individuelle Einkommen an Stelle des Haushaltseinkommens zugrunde legt. Ein Grundsicherungsanspruch entsteht, wenn hilfebedürftige Ältere ihren Lebensunterhalt nicht aus ihrem eigenen Einkommen und Vermögen und dem Einkommen und Vermögen des Partners bestreiten können. Die Berechnungen des WDR basieren auf dem individuellen sozialversicherungspflichtigen Einkommen. Es werden weder andere Vermögenswerte noch der Haushaltskontext berücksichtigt. Bei einer Ehe mit einem viel und einem wenig verdienenden Partner erscheint also eine Person altersarm, auch wenn das Haushaltseinkommen hoch ist.
Auch wenn die WDR Prognosen aus den erläuterten Gründen das Problem der Altersarmut in grotesker Weise überschätzen, ist erhöhte Aufmerksamkeit geboten. Berechnungen des wissenschaftlichen Beirats beim Bundeswirtschaftsministerium aus dem Jahr 2013 kommen im pessimistischsten Szenario auf einen Anstieg der Grundsicherungsempfänger von derzeit 3% auf 5,4%, also fast eine Verdoppelung. Allerdings lässt sich dies beispielsweise durch eine Ausweitung der Lebensarbeitszeit im Rahmen der Rente mit 67 dämpfen. Auch durch betriebliche und private Renten kann das Armutsrisiko für einen Großteil der Bevölkerung deutlich gesenkt werden. Generell zeigt sich aber, dass selbst bei einer Verdopplung des Armutsrisikos der über 65-Jährigen der Anteil der armen Rentner deutlich unter dem Anteil der Armen in der Gesamtbevölkerung (von derzeit 9,3%) liegt, während es für Haushalte mit Kindern deutlich darüber liegt. Jeder Haushalt in Armut ist zu viel, aber es sind mehr Kinder als Ältere betroffen. Rentenreformen, die die Älteren entlasten, aber diesen Kindern noch mehr Lasten aufbürden, verschlimmern daher die Armutsprobleme in Deutschland anstatt sie zu verbessern.