Die Verdrängung des demographischen Wandels | Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik - MPISOC
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07.01.2022 / Sozialpolitik (MEA) EN

Die Verdrängung des demographischen Wandels

Rückschritt statt Fortschritt: Die deprimierende Rentenpolitik der Ampelkoalition

Von Axel Börsch-Supan

Der Koalitionsvertrag der Ampelparteien hat 177 Seiten. Davon sind gerade einmal zwei Seiten dem Thema Alterssicherung und Renteneintritt gewidmet. Warum würdigen die neuen Koalitionäre diesem Thema noch nicht einmal anderthalb Prozent ihres gewichtigen Werkes diesem Thema? Immerhin lassen wir uns allein die gesetzliche Rentenversicherung jeden zehnten Euro unserer Wirtschaftskraft kosten; die Rentnerinnen und Rentner machen 22% der Bevölkerung und 30% der Wahlberechtigten aus.

Liegt es daran, dass alles in Butter ist mit der Alterssicherung in Deutschland, und wir uns daher ganz auf den Klimaschutz konzentrieren sollten? Die Bürgerinnen und Bürger scheinen das nicht so zu sehen. Laut Bundeszentrale für politische Bildung haben 37% der Befragten große und 31% gewisse Sorgen über ihre Alterssicherung, und lediglich 33% haben geringe oder gar keine Sorgen. Es ist nach der Furcht, ein Pflegefall zu werden, die zweitgrößte persönliche Sorge der befragten Erwachsenen. So ist es dann doch verwunderlich, dass das Wort Klima wie ein roter Faden den Koalitionsvertrag durchzieht und 198mal erwähnt wird, während die Demographie gerade eben viermal erscheint: Einmal steht Deutschlands Wirtschaft „vor tiefgreifenden Transformationsprozessen von der Dekarbonisierung über die digitale Transformation bis hin zum demografischen Wandel“. Dann ist „in Zeiten des demografischen Wandels eine gezielte Nationale Weiterbildungsstrategie“ nötig. Ebenso soll sich „die Krankenhausplanung an der demografischen Entwicklung orientieren“ und schließlich sogar „die Bundeswehr demografiefest“ gemacht werden.

Einen Verweis darauf, dass die gesetzliche Rentenversicherung aufgrund des demographischen Wandels vor der größten Herausforderung seit Bismarck steht, sucht man jedoch vergeblich. Vielleicht wird man beim Begriff Nachhaltigkeit fündig, hofft der Leser des Koalitionsvertrages, denn das ist schließlich ein konstituierendes Merkmal der Grünen. Ja natürlich, schon in der Überschrift und dann weitere exakt hundertmal wird dieses in vieler Hinsicht als zentral erkannte Prinzip vorausschauenden Handelns zitiert – nur kein einziges Mal bei den Themen Alterssicherung und Rente.

Die Verdrängung des demographischen Wandels als eine große Bedrohung für die finanzielle und soziale Nachhaltigkeit der Alterssicherung in Deutschland erinnert an die Verdrängung des Klimawandels noch bis vor ganz Kurzem. Wir sind erst aufgescheucht worden durch die heißen Sommer, Starkregen und schrecklichen Überschwemmungen, zunächst fernab, dann vor der eigenen Haustüre. Ob wir den Karren noch wenden können, bis die 1,5- oder 2-Grad-Schwelle überschritten wird, oder ob wir zu spät reagiert haben, ist noch unklar. Mit dem demographischen Wandel scheint es ähnlich zu sein. Offenbar brauchen wir auch in der Alterssicherung erst eine Krise, um aufzuwachen und zu verstehen, dass es wie beim Klimawandel notwendig ist, langfristig zu denken und rechtzeitig zu reagieren.

Diese Krise lässt sich leichter voraussagen als beim Klimawandel, dessen komplexe Interaktionen wir bislang nur ansatzweise verstehen. Dies liegt daran, dass der demographische Wandel größtenteils dadurch seine Wirkung entfaltet, dass diejenigen, die in diesem nun endenden Jahr 61 Jahre alt sind, im Jahr 2024 64 Jahre alt sein werden. Die meisten von ihnen arbeiten jetzt noch, werden aber in drei Jahren Rente beziehen. Das wäre nicht weiter besorgniserregend, wenn es nicht so viele wären: Die heute 61jährigen gehören zu den zahlenmäßig größten Jahrgängen der deutschen Bevölkerung, gut 1,3 Millionen Menschen sind es. Es folgen weitere sechs Jahrgänge mit über 1,3 Millionen Menschen, von denen all diejenigen, die Anspruch auf eine gesetzliche Rente haben, diese auch beziehen wollen.

Dieser Ansturm auf die Rentenkasse ist also sehr präzise vorhersehbar. Ende dieses Jahres wird die Reserve der gesetzlichen Rentenversicherung noch knapp 40 Milliarden Euro betragen. In vier Jahren wird sie nach den Berechnungen der gesetzlichen Rentenversicherung leer sein, auch bei bester Wirtschaftsentwicklung. Eine Beitragserhöhung ist daher spätestens im Jahr 2024 unausweichlich. Sie ist schmerzlich, weil im Gegensatz zur steigenden Zahl der Rentnerinnen und Rentner die Zahl der Beitragszahlenden abnimmt, und jede Beitragszahlerin und jeder Beitragszahler mehr Beiträge schultern muss.

Wiederum liegt das an der Demographie: die Jahrgänge im erwerbsfähigen Alter werden immer kleiner, weil die Geburtenrate schon seit langem unter dem Gleichgewichtswert liegt, der eine stabile Bevölkerung sicherstellen würde. Dies lässt sich auch nicht durch eine höhere Frauenerwerbstätigkeit oder Einwanderung in realistischem Ausmaß kompensieren, wie die letzte Rentenkommission durchgerechnet hat.

All dies ist kein Grund zur Panik. Weil sich der demographische Wandel präziser voraussagen lässt als der Klimawandel, ist vorausschauende Planung in der Alterssicherung einfacher als im Klimaschutz. Sie lässt sich ebenso generationengerecht wie finanziell und sozial nachhaltig gestalten. Genau das vermisst man im rot-gelb-grünen Koalitionsvertrag.

Sowohl generationengerecht als auch finanziell nachhaltig waren die Reformen der rot-grünen Koalition, die 2005 umgesetzt wurden. Generationengerecht ist der von der damaligen Koalition eingesetzte sogenannte Nachhaltigkeitsfaktor, weil er den Beitragssatzanstieg für die jüngere Generation, die durch den demographischen Wandel entsteht, dadurch dämpft, dass er gleichzeitig auch das Rentenniveau absenkt. Dies ist auch finanziell nachhaltig, weil die Kombination von mäßigem Anstieg des Beitragssatzes und gleichproportionalem Absenken des Rentenniveaus die Finanzierung der gesetzlichen Rente weitgehend vom demographischen Wandel entkoppelt.

Der große Einwand gegen diese Politik ist dieser Tage, dass sie finanziell, aber nicht sozial nachhaltig ist. Begründet wird dies damit, dass das fallende Rentenniveau einer Rentenkürzung gleichkommt, was vor allem weniger vermögenden Rentnerinnen und Rentnern schadet. Diese Begründung ist jedoch grob falsch, denn das Rentenniveau hat nur bedingt etwas mit der Höhe der Rente zu tun. Zum einen ist die Suggestion einer Rentenkürzung falsch, denn die Zahlbeträge der Renten können überhaupt nicht fallen, egal was ansonsten in der Wirtschaft passiert. Dies regelt die Rentengarantie, die im Sozialgesetzbuch seit 2009 verankert ist. Zum anderen ist das fälschlicherweise so genannte Rentenniveau kein Niveau, sondern ein Prozentsatz, der besagt, wieviel Prozent des Durchschnittsverdienstes die Standardrente ausmacht. Steigen die Löhne, aus denen der Durchschnittsverdienst berechnet wird, können auch bei fallendem Rentenniveau die Renten weiter steigen, nur nicht ganz so schnell wie der Durchschnittsverdienst.

Der unglückliche Begriff des Renten-“Niveaus“ führt immer wieder zu Verwirrungen und ist der maßgebliche Grund für das weitverbreitete Missverständnis, dass eine Absenkung des Rentenniveaus zu einer Rentensenkung führt. Es ist ähnlich wie in einem Zug: Der Schaffner kann vom ersten zum letzten Wagon laufen, und bewegt sich doch nach vorne, solange der Zug schneller nach vorne fährt als der Schaffner zum Ende des Zuges läuft.

Der Koalitionsvertrag greift das Missverständnis vom Rentenniveau auf, verstärkt es sogar, und bietet eine Scheinlösung an, die zutiefst generationenungerecht ist. Er verstärkt das Missverständnis, indem er mit dem Satz „Es wird keine Rentenkürzungen geben“ so tut, als würden diese nun bevorstehen und die Ampelkoalition sie heldenhaft abwehren. Nein. Der Nachhaltigkeitsfaktor lässt das Rentenniveau bis 2040 um ungefähr einen halben Prozentpunkt pro Jahr sinken. In der Vergangenheit war es deutlich weniger. Auch nach 2040 wird es wieder weniger werden, was daran liegt, dass zwischen heute und 2040 die zahlenmäßig so starke Babyboomgeneration kräftig Rente beziehen wird. Der Durchschnittsverdienst steigt aber im langfristigen Durchschnitt kaufkraftbereinigt um ungefähr 1,5 Prozent an, dreimal so stark, wie das Rentenniveau fällt. Der Zug, um im obigen Bild zu bleiben, fährt also dreimal so schnell nach vorne wie der Schaffner sich nach hinten bewegt. Der Schaffner kann sich daher darauf verlassen, dass er in Frankfurt ankommen wird, auch wenn er in Richtung München läuft. Genauso können sich die Rentnerinnen und Rentner darauf verlassen, dass sie mit ihrer Rente in Zukunft mehr kaufen können als heute. Auch die jungen Leute, die erst in 30 Jahren ins Rentenalter kommen, werden trotz eines gemäß dem Nachhaltigkeitsfaktor sinkenden Rentenniveaus eine um ungefähr 30% höhere Rente beziehen. Die Geschwindigkeit des Zuges entspricht der Rate, mit der die Löhne steigen; die Geschwindigkeit des Schaffners dem Fortschreiten des demographischen Wandels.

Anstatt diesen klugen und von vielen Ländern kopierten Anpassungsmechanismus an den demographischen Wandel ab 2025 fortzusetzen, wie es das geltende Recht vorsieht, setzt der Koalitionsvertrag auf eine Scheinlösung, nämlich eine neue Variante der Haltelinie. Sie ist in der zeitlichen Perspektive asymmetrisch ausgestaltet: Im Koalitionsvertrag heißt es „Wir werden das Mindestrentenniveau von 48% dauerhaft sichern“, aber „In dieser Legislaturperiode steigt der Beitragssatz nicht über 20 Prozent“. Die Rentnergeneration soll also dauerhaft von den Folgen des demographischen Wandels verschont werden, während die jüngere Generation diese durch Beitragserhöhungen finanzieren muss, die lediglich bis 2024 durch eine Obergrenze begrenzt werden.

Nach den Berechnungen der gesetzlichen Rentenversicherungen werden die Beiträge spätestens im Jahr 2024 steigen, aller Wahrscheinlichkeit nach mit einem sehr kräftigen Sprung gleich auf die besagten 20%, bis 2035 auf 22,4%. Die Lasten des demographischen Wandels werden einseitig auf die jüngere Generation verschoben, die zudem den Klimawandel und den aufgestauten Bedarf an Infrastrukturinvestitionen finanzieren muss. Dies ist offensichtlich nicht generationengerecht, aber auch nicht nachhaltig, weil die Beitragslast stetig ansteigen wird.

Eine weitere Scheinmaßnahme hat große Aufmerksamkeit gefunden: Im Koalitionsvertrag heißt es, dass „wir zur langfristigen Stabilisierung von Rentenniveau und Rentenbeitragssatz in eine teilweise Kapitaldeckung der gesetzlichen Rentenversicherung einsteigen“ und weiter „Dazu werden wir in einem ersten Schritt der Deutschen Rentenversicherung im Jahr 2022 aus Haushaltsmitteln einen Kapitalstock von 10 Milliarden Euro zuführen“. Zum Vergleich: Allein die Ausgabensteigerung zwischen 2021 und 2022 beträgt 15 Milliarden Euro. Der Rentenversicherungsbericht setzt die Ausgaben der gesetzlichen Rentenversicherung für das kommende Jahr auf rund 357 Milliarden Euro an. Im Klartext bedeutet die vollmundige Ankündigung des Koalitionsvertrages also, dass die Rentenversicherung aus Steuermitteln Reserven in Höhe von 10 Tagesausgaben erhält. Es ist schlichtweg unseriös, hier von einer „langfristigen Stabilisierung von Rentenniveau und Rentenbeitragssatz“ zu sprechen.

Ein ganz heißes Eisen ist das Renteneintrittsalter. Hier formuliert der Koalitionsvertrag lapidar: „Es wird keine Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters geben“. Dieser Satz ist erstaunlich, denn die schrittweise Einführung der Rente mit 67 und die entsprechende Erhöhung des vorgezogenen Eintrittsalters zur Rente mit 63 ist geltendes Recht und es stand bislang nicht zur Debatte, dieses Gesetz rückschrittlich zu ändern. Erstaunlich ist auch, dass man ein paar Zeilen vorher lesen konnte, dass „wir die umlagefinanzierte Rente durch die Erwerbsbeteiligung von älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern stärken wollen“. Nicht nur der mangelnde Einklang mit geltendem Recht, auch der Widerspruch zwischen diesen Absichten irritiert, denn aus internationaler Erfahrung ist bekannt, dass eine höhere Erwerbsbeteiligung Älterer nur durch ein höheres Rentenalter oder höhere Abschläge bei vorzeitigem Renteneintritt zu erreichen ist. Flexibilisierungsmodelle sind hingegen nicht nur in Deutschland -- man denke an die Blockaltersteilzeit -- sondern auch in Finnland, Österreich und Schweden gescheitert. Ein weiterer Widerspruch wird offensichtlich, wenn es im Koalitionsvertrag heißt, dass „ein flexibler Renteneintritt nach skandinavischem Vorbild“ in einem „gesellschaftlichen Dialogprozess“ diskutiert werden soll, wo doch Schweden aufgrund der negativen Erfahrungen mit seinem Flexi-Rentenmodell das Mindesteintrittsalter zur gesetzlichen Rente kürzlich um ein Jahr heraufsetzen musste.

Nach geltendem Recht wird das gesetzliche Rentenalter von 67 Jahren erst 2030 erreicht. Ob man es darüber hinaus erhöhen muss, weil die Lebenserwartungen weiter steigen wird, oder es erhöhen kann, weil sich mit der Lebenserwartung auch die Gesundheit verbessert, weiß man jetzt noch nicht mit Sicherheit. Beides ist jedoch sehr wahrscheinlich; jedenfalls rechnet das Statistische Bundesamt fest damit. Und wünschen möchte man sich das Gegenteil auch nicht. Ohne eine Erhöhung des Rentenalters von ungefähr 8 Monaten für jedes weitere Jahr Lebenserwartung werden die Beiträge zur Rentenversicherung noch weiter steigen müssen, als sie es ohnehin schon werden. Das Beharren der Koalitionäre auf „Es wird keine Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters geben“ ist daher generationenungerecht, denn es bürdet die Kosten der zusätzlichen Rentenbezugszeit, in deren Genuss die Älteren kommen, den Jüngeren auf. Man mag einwenden, dass es bis 2030 noch lange hin ist für die Politikerinnen und Politiker der Ampelkoalition. Nachhaltige Politik ist aber an vorausschauendes Handeln gebunden. Die Verdrängung eines heißen Eisens ist das Gegenteil. Zudem sind diejenigen, die als erste wissen müssen, wann sie 2031 normal in Rente gehen können, jetzt 57 Jahr alt, bei der nächsten Bundestagswahl 60 Jahre. Man kann annehmen, dass diese Menschen sich schon in dieser Legislaturperiode Gedanken über Ihre Zukunft machen.

Das Fazit fällt also wenig zukunftsorientiert aus. „Mehr Fortschritt“ wird nicht gewagt. Stattdessen besteht die Rentenpolitik der neuen Koalition zum großen Teil aus Verdrängung und rückwärtsgewandten Maßnahmen, die nachhaltige und generationengerechte Lösungen wieder abwickeln. Es ist daher kein Wunder, dass das wichtige Thema der Alterssicherung nur auf zwei der 177 Seiten des Koalitionsvertrages Beachtung findet. Das Handeln in der Alterssicherung wird auf die Zukunft verschoben. Das ist weder generationengerecht noch nachhaltig. Als ob man sich schämen wollte wird im Gegensatz zu den Plänen der ersten rot-grünen Koalition das Wort „nachhaltig“ nun bei der Alterssicherung vermieden. Es ist deprimierend, wie die drei Parteien, die die Jugend ansprechen und mehr Fortschritt wagen wollen, so rückschrittlich nur die ältere Generation im Blick haben.

Die Zukunft der Alterssicherung ist keineswegs schwarz-weiß. Wie rosig oder düster sie wird, hängt im Wesentlichen vom Wachstum der Durchschnittsverdienste ab, also der Geschwindigkeit, mit der die Lokomotive den Zug voranbringt. Ob sich hier mehr rot, grün oder gelb durchsetzen wird, werden wir sehen. Die wichtigste Einsicht für eine alternde Gesellschaft ist es, dass diese Lokomotive mit Bildungs- und Zukunftsinvestitionen betankt wird. Sie darf nicht durch immer weiter steigende Beitrags- und Steuerlasten ausgebremst werden. Daher müssen die Renten generationengerecht und nachhaltig finanziert werden, aber nicht durch eine nach oben offene Steuer- und Beitragslast, wie es der Koalitionsvertrag avisiert.