Europa begreifen und gestalten
Die Vortragsreihe zur „Zukunft des Steuer- und Sozialstaates in der Europäischen Union“, 2024 zusammen mit dem Max-Planck-Institut für Steuerrecht und Öffentliche Finanzen ins Leben gerufen, um sich entscheidenden Fragen zum künftigen Rahmen der Europäischen Union zu widmen, startet in ein neues Jahr.
Im Rahmen des Max Planck Hub Fiscal and Social State sind auch 2025 wieder renommierte Persönlichkeiten aus Theorie und Praxis eingeladen, um wichtige Entwicklungen in der Europäischen Fiskal- und Sozialpolitik zu diskutieren.
Den Anfang machte am 13. Januar Prof. Dr. Michael W. Müller, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Europäisches Wirtschaftsrecht an der Universität Mannheim. Müller ist ausgewiesener Kenner der europäischen Finanzordnung und habilitierte sich 2024 an der Ludwig-Maximilians-Universität mit einer Arbeit zu „Konditionalität – Zu einer Form nicht-imperativer Verhaltenssteuerung durch öffentliche Finanzen im deutschen und europäischen Recht“ (im Erscheinen).
Die Zukunft der europäischen Finanzverfassung
Über 50 Gäste waren trotz eisiger Temperaturen erschienen, um Müllers Ideen zur „Zukunft der europäischen Finanzverfassung“ zu hören. Den Begriff „Zukunft“ hatte Müller dabei durchaus mit Bedacht gewählt: er sollte den Fokus auf die noch zu leistende Arbeit legen und welche Rolle der Wissenschaft dabei zukommt, die diesen Prozess begleiten kann und sollte.
Müller begann mit einem Überblick über die Grundstrukturen der europäischen Finanzverfassung. Als besondere Strukturelemente identifizierte er den mehrjährigen Finanzrahmen, die weiterhin stark beitragsfokussierte Finanzierung und die exekutive Prägung sowie die „Steuerung durch Finanzen“ durch Konditionalitätsmechanismen.
Verstetigung von Krisenmechanismen?
Die Diskussion um eine europäische Finanzsouveränität ist seit der Covid-19-Pandemie und dem russischen Überfall auf die Ukraine neu aufgeflammt. Die Instrumente NextGenerationEU und später REPowerEU brachten als Krisenmaßnahmen, wenn auch grundsätzlich temporäre, zuvor kaum denkbare Neuerungen mit sich. Nach den Plänen der Kommission solle es, laut Müller, hierbei aber nicht bleiben, sondern die gesamte europäische Finanzarchitektur in Richtung einer schuldenfinanzierten Transferunion gelenkt werden. Diese Normalisierung einer „unionalen Verschuldung als allgemeines Finanzierungsinstrument“ sieht er kritisch. Der Blick solle vielmehr auf „neue echte Einnahmen“ gerichtet werden, die sich auch von reinen Beiträgen der Mitgliedstaaten lösen.
Was die Ausgabenseite angeht, begrüßte Müller an den Plänen zwar, dass sie eine starke Vereinfachung der komplizierten Haushaltsstrukturen vorsehen und sich auf supranationale „European Public Goods“ konzentrieren. Problematisch sei aber die Verstetigung der Praxis, nationale Gesamtpläne unmittelbar zwischen der Kommission und den Mitgliedstaaten zu verhandeln. Hierdurch werde die Kontrolle einzelner Ausgaben im Rahmen der Programmkonditionalität geschwächt, die Kommission selbst aber institutionell gestärkt.
Das Zusammenspiel von Solidarität, Solidität und Souveränität
Müller sieht die europäische Finanzverfassung letztlich als Spiegel des großen, europäischen Integrationsprojekts: Auch hier trifft die Frage nach Solidarität auf die nach Solidität und Souveränität. Eine unmittelbare finanzielle Solidarität bestehe derzeit nur zwischen den Mitgliedstaaten, zwischen den Bürgern bleibe sie indirekt. Finanzielle Solidität sei gerade bei gemeinschaftlichen Schulden nicht zu vernachlässigen. Und finanzielle Souveränität könne die Union kaum durch die Aufnahme von Schulden erreichen – diese führten vielmehr zu Abhängigkeiten. In Kombination mit der Fokussierung auf das Beitragssystem bestehe bei den derzeitigen Plänen das Risiko, dass sich die Union zur reinen Umverteilungsstelle entwickele und dabei das Ziel spezifischer Integrationsprojekte in den Hintergrund trete.
Dennoch wollte Müller seinen Vortrag nicht pessimistisch beenden, sondern mit dem Appell an die Wissenschaft, sich gerade dieser Probleme anzunehmen. Es gehe nicht um technische Randfragen, sondern um Kernaspekte des europäischen Projekts. Vor allem sei zu erarbeiten, wie eine demokratische Finanzierung der EU gedacht werden kann, die einen europäischen Mehrwert bietet, aber zugleich Rücksicht auf die Autonomiebedürfnisse der Mitgliedstaaten nimmt.
Für welches Europa planen wir eigentlich?
In der abschließenden Diskussion wurden die rechtlichen Anforderungen an Konditionalitätsmechanismen im europäischen und deutschen Recht sowie das Potential verschiedener denkbarer Finanzierungsinstrumente, einschließlich einer „echten“ EU-Steuer lebhaft diskutiert. In diesem Zusammenhang wurde auch erörtert, ob der Begriff „europäische Finanzverfassung“ nach dem derzeitigen Entwicklungsstand überhaupt angemessen ist. Die Diskussion schloss mit der Frage, für welches Europa man angesichts des Aufstiegs rechtspopulistischer Kräfte eigentlich planen müsse. Bleibt es bei einer „Integration Through Law“ oder beginnt eine Zeit der „Integration Through Money“?
Dürr / Mahlig / Salzer