Forschung am Herzen des Sozialstaats
1980 wurde das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Sozialrecht gegründet
Für die Sozialrechtsforschung war die Gründung des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Sozialrecht im Jahr 1980 ein Meilenstein. Erstmals nach dem 2. Weltkrieg haben Rechtswissenschaftler das nationale Sozialrecht systematisch erfasst und mit ausländischen Rechtsordnungen verglichen – immer auf der Suche nach Erkenntnissen, die zum einen das theoretische Fundament der Sozialrechtswissenschaft weiterentwickeln, zum anderen aber auch ganz praktisch zur Lösung sozialer Probleme beitragen können. 2011 wurde das Institut um eine ökonomische Abteilung erweitert und in der Folge in Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik umbenannt. Dass aus dem Institut einmal ein international anerkanntes Zentrum für Sozialrecht und eine Stätte der Begegnung für an sozialrechtlichen und sozialpolitischen Fragen interessierte Forscher/innen werden würde, war keine Selbstverständlichkeit und erforderte viel Engagement der beteiligten Wissenschaftler/innen. Denn die Max-Planck-Gesellschaft (MPG) bewilligte zunächst kein eigenständiges Institut, sondern nur eine fünfköpfige Projektgruppe für internationales und vergleichendes Sozialrecht mit einer Laufzeit von fünf Jahren.
Die Projektgruppe
Mit der Gründung einer Projektgruppe war die MPG einer Aufforderung von Prof. Dr. Georg Wannagat (1916-2006), von 1969 - 1984 Präsident des Bundessozialgerichts, nachgekommen. Er hatte im Sommer 1972 in einem Brief an den damaligen Präsidenten der MPG, Reimar Lüst (1923-2020), die Aufnahme des vergleichenden und internationalen Sozialrechts in das Forschungsprogramm der Max-Planck-Gesellschaft angeregt. Wannagat verfolgte damit das Ziel, das Sozialrecht aus dem "wissenschaftlichen Abseits" zu holen. Bemühungen um eine wissenschaftliche Annäherung an das Sozialrecht hatte es zwar bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert gegeben. Während der NS- und Nachkriegszeit sind diese aber nahezu vollständig in der Bedeutungslosigkeit verschwunden. Bis zur Gründung der Projektgruppe wurde sozialrechtliche Forschung in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) kaum betrieben – schon gar nicht im Hinblick auf grundlegende Fragen. Die Verabschiedung einer Vielzahl neuer Sozialgesetze in der damaligen BRD und die daraus resultierenden Gerichtsentscheidungen machten dies jedoch erforderlich, ebenso wie eine zunehmend aktivere Rolle Deutschlands auf der internationalen Bühne. Die Mitgliedschaft der BRD in Zusammenschlüssen wie den Vereinten Nationen, der Weltgesundheitsorganisation, der Europäischen Gemeinschaft und dem Europarat ging mit inter- und supranationalen Verpflichtungen einher, weshalb auch die wissenschaftliche Erschließung des Sozial-Völkerrechts (bi- und multilaterales Abkommensrecht und Recht internationaler Organisationen) und des freizügigkeitsspezifischen Sozialrechts der Europäischen Gemeinschaften immer dringlicher wurde.
Wannagat hätte die Max-Planck-Forscher gerne in Kassel, dem Sitz seines Gerichtshofs, gesehen. Allerdings wollte der gebürtige Bayer und LMU-Professor Hans F. Zacher (1928-2015), der für die Leitung der Gruppe auserkoren worden war, nicht nach Kassel übersiedeln. Nach längeren Verhandlungen nahm die Max-Planck-Projektgruppe für internationales und vergleichendes Sozialrecht schließlich am 1. März 1976 in München ihre Arbeit auf.
Neuanfang der Sozialrechtsforschung
Die Projektgruppe musste am "Nullpunkt" ansetzen und einen wissenschaftlichen Neuanfang wagen. Es gab kaum Forschung, auf der sie aufbauen konnte, und anfangs nicht einmal eine Bibliothek. Das Sozialrecht systematisch zu erfassen und seine Eigenheiten herauszuarbeiten – und zwar nicht nur für Deutschland, sondern auch rechtsvergleichend für andere Länder – war die zentrale Aufgabe, vor der sich die Wissenschaftler/innen gestellt sahen.
Als einzige Forschungsgruppe ihrer Art weltweit leisteten Zacher und seine Mitarbeiter/innen Pionierarbeit. Die Wissenschaftler/innen hatten nicht nur Methode und Systematik der Sozialrechtsforschung von Grund auf zu entwickeln. Sie mussten zunächst auch bestimmen, was unter Sozialrecht überhaupt zu verstehen ist. Eine Annäherung erfolgte durch eine Reihe wegweisender wissenschaftlicher Publikationen zum Sozialstaatsprinzip, zur Entstehung der Sozialversicherung und zum Sozialgesetzbuch. Dabei tasteten sich die Forscher/innen von zwei Seiten an ihre komplexe Materie heran: über thematische Schwerpunkte einerseits und die Erforschung des Sozialrechts anderer Länder andererseits. Länderschwerpunkte wurden zunächst auf Frankreich, Großbritannien, Italien, Kanada, die DDR und die Sowjetunion sowie Algerien gesetzt. Wichtige Themen der ersten Jahre waren vor allem das Verfahren sozialer Leistungserbringung, soziale Sicherung bei Behinderung, die soziale Sicherung von Autorinnen und Autoren sowie Künstlerinnen und Künstlern sowie die Rechtsstellung der Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter. Eine besondere Bedeutung kam der Erforschung der Sozialversicherung zu. Sie führte schließlich zu einem großen Colloquium anlässlich des 100. Jubiläum der „Kaiserlichen Botschaft“, mit der 1881 die Sozialversicherungsgesetzgebung unter Bismarck eingeleitet worden war.
Das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Sozialrecht
Vier Jahre nach ihrer Gründung wurde die Projektgruppe 1980 in ein vollwertiges Institut, mit dem ausländischen und internationalen Sozialrecht als Forschungsgegenstand, überführt. Dieser Schritt ermöglichte es Hans F. Zacher, weitere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einzustellen und die thematischen Schwerpunkte auszuweiten. Sozialrechtliche Fragen zu medizinischer Versorgung, Sozialhilfe, Alterssicherung, Ehe und Familie sowie die soziale Sicherung im öffentlichen Dienst beschäftigten nun die inzwischen zehn wissenschaftlichen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Dabei sollte die Arbeit an einzelnen Problembereichen dazu dienen, die allgemeine Theoriebildung anzuspornen und auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen.
In neu gegründeten Länderreferaten wurde das Sozialrecht weiterer Staaten oder Regionen erschlossen, darunter die skandinavischen Länder, Spanien, die USA, Kanada und Kenia – um nur einige zu nennen. Spezifischer Wert wurde von Anfang an auf die Erforschung des Sozialrechts in Ländern gelegt, die für aktuelle Entwicklungs- und Reformprozesse besonders exemplarisch sind. Dabei diente der Sozialrechtsvergleich auch stets der nationalen Sozialpolitik, indem auf diese Weise Stärken und Schwächen des eigenen Systems aufgezeigt werden konnten. Zudem griff das Institut das internationale Sozialrecht auf, d.h. die Regelung von Fällen, die sich auf grenzüberschreitende Sachverhalte wie die Zahlung von Sozialleistungen ins Ausland oder die sozialrechtliche Stellung von Ausländerinnen und Ausländern beziehen, und vertiefte die Forschung zu internationalen Organisationen. So wurde 1987 eine grundlegende Arbeit über die sozialen Aspekte des Rechts der Vereinten Nationen veröffentlicht.
Eine besondere Bedeutung kam dem supranationalen Recht der Europäischen Gemeinschaft zu. Insbesondere die Personenfreizügigkeit innerhalb der Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft brachte Fragen der sozialen Sicherheit, z.B. für Wanderarbeitnehmer/innen, mit sich. Das Institut leistete auch hier Pionierarbeit. In der Folge entstand in den 1980er Jahren die theoretische Grundlegung des sozialrechtlichen Kollisions- und Koordinationsrechts.
Eine Bereicherung für die international ausgerichtete Forschungsarbeit am Institut war die Kooperation mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus der ganzen Welt, darunter nicht wenige aus Osteuropa, was vor dem Ende des Kalten Krieges noch eine Besonderheit war. Über die Jahre entstand so ein reger wissenschaftlicher Austausch über Ländergrenzen hinweg. Bis heute verfügt das Institut über ein weltweites Netz von Korrespondentinnen und Korrespondenten. Zudem verfolgte das Institut schon früh einen interdisziplinären Ansatz und band andere Sozialwissenschaften wie Ökonomie, Soziologie, politische Wissenschaften, Geschichte und Ethnologie in die Forschung ein, um das Recht als Ganzes in den Blick nehmen zu können.
In seinen Jahren als Institutsdirektor hatte Zacher somit ein solides Fundament für die Sozialrechtsvergleichung in Deutschland gelegt, auf dem sein Nachfolger, Prof. Dr. Bernd Baron von Maydell, aufbauen konnte.
Einschneidende Veränderungen
Als Hans F. Zacher 1990 Präsident der Max-Planck-Gesellschaft wurde, überahm Prof. Dr. Bernd Baron von Maydell (1934 – 2018) in einer Phase großer politischer Umwälzungen die Leitung des Instituts. Die Teilung Deutschlands war überwunden und die mittel- und osteuropäischen Staaten wurden an die sich erweiternde und vertiefende Europäische Gemeinschaft herangeführt. Von Maydell richtete die Arbeit des Instituts auf die Transformationsprozesse in der Arbeitswelt und im Sozialschutz aus, insbesondere mit Blick auf die Staaten Mittel- und Osteuropas, deren Sozialstaatlichkeit neu begründet werden musste. Im Zentrum der Forschung standen nun die sozialrechtlichen Folgen des politischen Umbruchs für das wiedervereinigte Deutschland und die ehemals sozialistischen Staaten. Fruchtbar erwies sich dabei die Zusammenarbeit mit führenden Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen dieser Länder, die dem Institut zum Teil bis heute verbunden sind. Gezielt suchte von Maydell auch den Kontakt zu Sozialrechtlerinnen und Sozialrechtlern aus Japan, dessen Sozialsysteme vor allem durch den demographischen Wandel vor ähnlichen Herausforderungen stehen wie die deutschen. So waren die japanischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler insbesondere an der deutschen Expertise zur Einführung einer Pflegeversicherung interessiert.
In wachsendem Umfang begann das Institut nun auch, sich der Beratung sozialpolitischer Institutionen zu widmen, sei es auf nationaler, europäischer oder internationaler Ebene. Es war von Maydell stets ein großes Anliegen, durch Sozialrecht zum politischen Fortschritt beizutragen.
Erweiterung des Instituts
Die aufgrund gesellschaftlicher Entwicklungen notwendigen Anpassungen des Sozialstaats definierte von Maydells Nachfolger, Prof. Dr. Ulrich Becker, als einen von drei Kernbereichen der Institutsforschung, als er 2002 die Leitung des Instituts übernahm. Die beiden anderen umfassen die Transformationsprozesse in Entwicklungs- und Schwellenländern sowie die fortschreitende Europäisierung und Internationalisierung des Sozialrechts. In zahlreichen Veröffentlichungen wurden grundlegende Fragen des Sozialrechts behandelt, aber auch spezifischere, in Teilen wenig erforschte Formen des sozialen Schutzes wie beispielsweise das soziale Entschädigungsrecht. Zu nennen sind hier insbesondere die Publikationen „Security: A General Principle of Social Security Law in Europe“ (2010), „International Standard-Setting and Innovations in Social Security“ (2013), „Rechtsdogmatik und Rechtsvergleich im Sozialrecht I“ (2010), „Wahlmöglichkeiten und Wettbewerb in der Krankenversorgung“ (2010) sowie „Die dritte Generation“ (2014) und „Soziales Entschädigungsrecht“ (2018).
In der interdisziplinären Tradition des Instituts arbeiten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zudem an der Schnittstelle von Recht und Sozialwissenschaften. Sie schlagen zugleich die Brücke zur Arbeit der zweiten Abteilung, dem Munich Center for the Economics of Aging (MEA), um die das Institut 2011 erweitert wurde. Die Abteilung erforscht unter der Leitung des Direktors Prof. Dr. h.c. Axel Börsch-Supan, PhD, in erster Linie die ökonomischen Aspekte des demographischen Wandels. Mit der Aufnahme des MEA ging auch die Änderung des Namens in Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik einher.
Seit der Institutsgründung vor 40 Jahren haben die Forscherinnen und Forscher das nationale, ausländische und internationale Sozialrecht mit rechtswissenschaftlichen Methoden seziert und dabei viele Erkenntnisse gewonnen. Ihre vergleichende Arbeit konnte auch immer wieder Reformen im Sozialbereich im In- und Ausland anstoßen. Der permanente gesellschaftliche Wandel stellt sie in ihrem Anspruch, das Sozialrecht in seiner Breite und Vielfalt zu erforschen und den Sozialstaat ganzheitlich zu untersuchen, jedoch immer wieder vor neue Herausforderungen. Denn wie kein anderes Rechtsgebiet ist das Sozialrecht Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse und zugleich ein Instrument für die Gestaltung der Gesellschaft. Es entstehen neue Problemlagen, auf die Antworten gefunden werden müssen. Umso wichtiger ist es, wie es Hans F. Zacher formuliert hat, „anhand der gewonnenen Erfahrungen immer neu die Probleme zu identifizieren, deren vergleichende und internationale Erörterung der nationalen Gesellschaft der Bundesrepublik wie der internationalen Gesellschaft die bedeutsamsten Erträge verspricht“.
Zentrale Publikationen aus 40 Jahren
Zu den großen Konferenzen des ersten Institutsjahrzehnts zählten „Bismarcks Sozialgesetzgebung im Internationalen Vergleich“, die 1981 in Berlin stattfand, sowie 1988 die Internationale Konferenz für Soziale Wohlfahrt, an der auch die damalige Bundesfamilienministerin Rita Süßmuth teilnahm.
1976 markierte mit der Gründung der Max-Planck-Projektgruppe für internationales und vergleichendes Sozialrecht nicht nur den Beginn der Sozialrechtsforschung nach dem Zweiten Weltkrieg. Zum 1. Januar desselben Jahres trat auch der Erste Teil des Sozialgesetzbuches in Kraft. Bis heute wurden zwölf Teile verabschiedet und fortlaufend verändert.
Kein Rechtsgebiet prägt das Leben der Menschen so stark wie das auf die gesellschaftlichen Verhältnisse bezogene Sozialrecht. Die hohe Bedeutung dieser Rechtsmaterie für die Bürger stand lange in krassem Missverhältnis zu ihrer Berücksichtigung in Forschung, Lehre und praktischer Ausbildung. Ab Mitte der 1960er Jahre fand das Sozialrecht allmählich Eingang in die juristische Ausbildung. Die Nachwuchsförderung, vorwiegend in Form der Doktorandenbetreuung, sowie die Beteiligung an der akademischen Lehre, national wie international, ist zentraler Teil der Arbeit am Institut.