Der Einfluss der Herkunft auf die öffentliche Meinung
Nicht selten dient dem Gesetzgeber die öffentliche Meinung zur Ausgestaltung sozialer Sicherungssysteme als Hilfe bei der Entscheidungsfindung. Doch sind es meist nicht nur persönliche Interessen und Wertvorstellungen, sondern auch das System selbst, das die öffentliche Meinung beeinflusst. So wird häufig argumentiert, dass öffentliche Institutionen den Meinungsbildungsprozess in der Bevölkerung indirekt beeinflussen, indem sie Erwartungen formen und Präferenzen bilden und so einen essenziellen Beitrag zu ihrer eigenen Legitimierung leisten. Kurzum: die öffentliche Meinung zum sozialen Sicherungssystem ist abhängig von der Erwartungshaltung in der Bevölkerung, die wiederum selbst vom System geprägt ist. Um herauszufinden, welche Gesundheitssysteme in Europa ohne diesen Störfaktor besser abschneiden und wie sich die Verinnerlichung der von Institutionen vermittelten Werte und Erfahrungen, kurz die Sozialisation, auf die öffentliche Meinung auswirken, sind neue Forschungsansätze nötig.
In einer ländervergleichenden Studie untersucht Simone M. Schneider, Wissenschaftlerin am Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik, daher die Bewertungen des Gesundheitssystems von im europäischen Ausland geborenen Personen. Die Forscherin kommt zu dem Schluss, dass Sozialisationserfahrungen die öffentliche Meinung in der Tat entscheidend prägen: Diejenigen, die nicht in dem europäischen Land zur Welt gekommen sind, in dem sie aktuell leben, ziehen ihre Erfahrungen mit Institutionen im Herkunftsland wie auch ihr Wissen über alternative Ausgestaltungsmöglichkeiten als Bewertungsgrundlage heran.
Bislang haben Forschungsarbeiten darauf hingewiesen, dass für eine positive Bewertung eines Gesundheitssystems vornehmlich zwei Aspekte ausschlaggebend sind: Eine möglichst großzügige finanzielle Förderung des Gesundheitssektors und eine möglichst hohe Dichte an Allgemeinmedizinern/innen, die die medizinische Grundversorgung sicherstellen. Merkmale wie die Höhe privat gezahlter Gesundheitsausgaben oder die Dichte und der Zugang zu medizinischen Leistungen sind für die Bewertung hingegen kaum relevant. Untersucht man jedoch die Meinung derer, die in einem anderen Land geboren und aufgewachsen sind, lassen sich weitere Bewertungskriterien feststellen.
Generell gilt für diejenigen, die im europäischen Ausland geboren sind: Je besser die Leistungen des Gesundheitssystems im Aufenthaltsland im Vergleich zu denen des Herkunftslandes sind, desto besser wird das Gesundheitssystem des Aufenthaltslandes bewertet. Hier werden dann Faktoren wie der Zugang zu medizinischer Versorgung zu entscheidenden Kriterien für die Bewertung. Ist die Wahl eines Allgemeinmediziners im Ankunftsland weniger restriktiv und ist es vergleichbar einfacher, sich an eine/n Facharzt/ärztin im Ankunftsland zu wenden, wird die Bewertung entsprechend besser ausfallen. Auch die Erfahrung mit unterschiedlichen Finanzierungsmodellen fließt in die Beurteilung ein. So werden primär steuerfinanzierte Gesundheitssysteme durchschnittlich schlechter bewertet, wenn der/die Befragte zuvor in einem beitragsfinanzierten Krankenversicherungssystem gelebt hat.
Bewertungen des Gesundheitssystems werden auch durch weitere Faktoren bestimmt, wie beispielsweise der vorherrschenden öffentliche Meinung im Aufenthaltsland: Ist die Mehrheit der Bevölkerung ihrem Gesundheitssystem gegenüber positiv eingestellt, wirkt sich dies auch positiv auf die Einstellung der Neuankömmlinge aus. Zudem zeigt sich, dass die Befragten öffentliche Institutionen im Ankunftsland anfangs generell positiver sehen als viele Inländer/innen. Diese Euphorie lässt jedoch mit der Zeit nach.
Die Herkunft hat demnach einen erkennbaren Einfluss auf die Meinungsbildung, wobei das Ursprungsland häufig den Referenzrahmen für die Bewertung anderer öffentlicher Institutionen darstellt. Dies wird bei der Untersuchung der Faktoren, die die Meinung derjenigen beeinflussen, die in einem anderen europäischen Land geboren sind als sie momentan leben, deutlich. Das Wissen und die Erfahrung von alternativen Ausgestaltungsmöglichkeiten sozialer Sicherungssysteme prägt grundlegend deren subjektive Bewertung. Vor dem Hintergrund ansteigender Mobilitätserfahrungen gerade im europäischen Raum ist davon auszugehen, dass diese Aspekte für den öffentlichen Meinungsbildungsprozess zunehmend wichtiger werden.
Publikation:
Schneider, Simone M.: Beyond endogeneity in analyses of public opinion: Evaluations of healthcare by the foreign born across 24 European countries, in: PLOS ONE, 2020.