Die Bedeutung des EUGH für die Ausgestaltung des Solidaritätsprinzips
Kein Geringerer als Prof. Koen Lenaerts, Präsident des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) und "überzeugter Europäer", vermittelte in seinem Vortrag zur Eröffnung des neu gegründeten Max Planck Hub Fiscal and Social State und der unter seinem Dach stattfindenden Vortragsreihe "The Future of the Fiscal State and the Social State in the European Union" grundlegende Einsichten in die Entwicklung des Solidaritätsprinzips in der EU. Der Hub, eine Initiative des Max-Planck-Instituts für Sozialrecht und Sozialpolitik und des Max-Planck-Instituts für Steuerrecht und Öffentliche Finanzen, soll Perspektiven aus dem Sozialrecht sowie aus dem Steuerrecht im Rahmen der rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung zusammenführen.
Unter den 80 Besucherinnen und Besuchern, die gekommen waren, um den Vortrag von Präsident Lenaerts zu hören, waren u.a. Dr. Hans-Josef Thesling, Präsident des Bundesfinanzhofs, sein Vorgänger Prof. Dr. Rudolf Mellinghoff, Prof. Dr. Rainer Schlegel, Präsident des Bundessozialgerichts und Prof. Dr. Patrick Cramer, Präsident der Max-Planck-Gesellschaft. Lenaerts‘ Vortrag konzentrierte sich auf die Frage, wie der EuGH den Einfluss der EU-Grundfreiheiten und der Wettbewerbsregeln unter dem Gesichtspunkt der Solidarität nuanciert, dabei die Souveränität der Mitgliedstaaten achtet und durch seine Auslegung der EU-Sozial- und Steuervorschriften zur Entwicklung eines EU-weiten Solidaritätskonzepts beiträgt.
Gleich zu Beginn hob Lenaerts, der auch Professor für Europarecht an der KU Leuven ist und acht Ehrendoktorwürden hat, die zwölf Werte hervor, die in Art. 2 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) festgelegt sind – die "zwölf Sterne auf der europäischen Flagge", darunter Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Gerechtigkeit und Solidarität. Letztere stelle die "Essenz der Schuman-Erklärung" von 1950 dar. Solidarität sei jedoch nicht absolut, sondern müsse gestaltet werden. Zudem gelte es, auch andere Grundsätze zu beachten. Ein Streik zum Beispiel kann legitim, muss aber auch verhältnismäßig sein.
Die sozialen und wirtschaftlichen Aspekte müssen Hand in Hand gehen, betonte Lenaerts, auch wenn diese beiden Bereiche häufig miteinander in Konflikt stehen. Die Krankenversicherungen zum Beispiel basierten auf dem Prinzip der nationalen Solidarität, müssten aber gleichzeitig kosteneffizient arbeiten. Als solche sind sie bis zu einem gewissen Grad dem Wettbewerb ausgesetzt. Eine Betrachtung der Krankenkassen als private Unternehmen würde jedoch das Wesen der sozialen Sicherheit untergraben, was der EuGH in mehreren Urteilen bekräftigt hat. Im Bereich der steuerlichen Beihilfen müsse die Chancengleichheit im Wettbewerb gewahrt werden, der Tatbestand der Beihilfe sei aber im Kontext des nationalen Rechts zu ermitteln.
Der EuGH-Präsident zeigte sich fest davon überzeugt, dass das Solidaritätssystem in der EU auf Dauer keinen Bestand haben kann, wenn es nicht positiv gesehen werde. Die Folgen einer eher ablehnenden Haltung gegenüber dem Solidaritätsprinzip wurden von Ruth Mason, Professorin an der renommierten University of Virginia School of Law und Max Planck Law Fellow, skizziert. Sie stellte zu Beginn der Veranstaltung ihre Forschungen zur zwischenstaatlichen Solidarität im Vergleich zwischen den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union vor, die sie im Rahmen des Max Planck Hub Fiscal and Social State betreiben wird – eine Forschung, die wahrscheinlich aktueller und – angesichts der Herausforderungen an die Solidarität, denen sich die Staaten gegenübersehen – auch notwendiger denn je ist.