Eine neue Sichtweise auf Behinderung
Fragen der Behinderung und Teilhabe waren zehn Jahre lang fester Bestandteil der Forschung des Max-Planck-Instituts für Sozialrecht und Sozialpolitik in München. Wissenschaftlich nachgegangen wurde ihr zwischen 2010 und 2020 von der Max Planck Fellow-Gruppe, einem interdisziplinären Team an Forscher/innen. Was in dieser Zeit erreicht wurde und welche Forschungspotenziale noch auszuschöpfen sind, hat Prof. Dr. Elisabeth Wacker, Leiterin der Fellow-Gruppe und Inhaberin des Lehrstuhls für Diversitätssoziologie an der TU München, in dem jetzt erschienenen Open Access-Beitrag „Teilhabefokus und Soziologie sozialer Probleme. Eine Erkundung zu Forschungspotenzialen am Beispiel der Behinderungsfrage“ herausgearbeitet.
Die Fellow-Gruppe widmete sich der Inklusionsthematik im Kontext von Behinderung in gesellschaftlichen Wandlungsprozessen, etwa im Sozialraum (Becker, Wacker, Banafsche 2013) und im Erwerbsleben (Becker, Wacker, Banafsche 2015). Das Merkmal „Behinderung“ wurde als soziale Praxis, als Handlungs- bzw. Leistungserwartung und als „kristallisierter Wissensbestand“ erforscht. Dabei arbeiteten die Wissenschaftler/innen heraus, dass es als Sammelkategorie für höchst verschiedene Bevölkerungsgruppen dient. Körperlich, psychisch und/oder sozial beeinträchtigt zu sein, entpuppt sich somit als unterschiedlich problematisierbares Problem und Frage der Deutung. Bis heute steht ein wissenschaftlicher Konsens zur Konstruktion von Beeinträchtigt-Sein und Behindert-Werden aus. Jedoch verdichten sich gegenwärtig gute Gründe, Behinderung keinesfalls als Eigenschaft einer Person, sondern als soziale Kategorie mit Teilhabebezug zu betrachten.
Um eine neue Sichtweise auf Behinderung zu erreichen, schlägt Elisabeth Wacker in ihrem Beitrag vor, mehrere Ansätze für die Teilhabeforschung heranzuziehen: Inklusion mit der Botschaft der Zugehörigkeit und Wertschätzung an Individuen und Gruppen, Diversität als Offenheit und Bewusstsein für Vielfalt und Gerechtigkeit als faire und angemessene Bedingungen für alle. Darüber hinaus weist sie darauf hin, dass Kommunen, die unter teils schwierigen Bedingungen eine umfangreiche Daseinsvorsorge garantieren sollen, künftig in besonderer Weise wissenschaftliche Aufmerksamkeit benötigen.
Demnächst erscheint als abschließendes gemeinsames Projekt aus der Fellow-Zeit der Band zur Tagung „Wem gehört die Teilhabe?“, die am MPI für Sozialrecht und Sozialpolitik mit Vertreter/innen aus Wissenschaft und Praxis stattgefunden hat. Das Buch ist Teil der Schriftenreihe “Studien aus dem Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik” (Nomos-Verlag). Die wissenschaftliche Kooperation ist damit jedoch nicht beendet. Prof. Wacker plant mit Prof. Ulrich Becker, der als Direktor die sozialrechtliche Abteilung des Instituts leitet, bereits neue Forschungsprojekte.