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25.03.2025 / Sozialrecht

Eine radikale Umgestaltung der Europäischen Union

Prof. Floris de Witte (LSE) über Demokratie und Macht in der "neuen aktivistischen EU"
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Prof. Floris de Witte ist der Ansicht, dass sich die Macht in der EU zugunsten der Exekutive verschiebt.

Im Zuge mehrerer Krisen seit 2008 entwickelte die Europäische Union zunehmend Aktivismus und Unabhängigkeit. Dieses neue Gesicht einer „aktivistischen Europäischen Union“ stand im Mittelpunkt des gut besuchten Vortrags von Prof. Floris de Witte am 11. März, den er im Rahmen der Reihe „Die Zukunft des Steuer- und Sozialstaates in der Europäischen Union“ hielt, die vom Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik und dem Max-Planck-Institut für Steuerrecht und Öffentliche Finanzen veranstaltet wird.

 

„Die EU verändert sich fast wöchentlich“, sagte Floris de Witte, Professor an der LSE Law School, und argumentierte, dass das Krisenmanagement der EU nicht nur aus Ad-hoc-Lösungen bestehe, sondern "einen radikalen und strukturellen Wandel" darstelle. Er identifizierte drei Prozesse, die den Wandel der EU sowohl begleiten als auch beschleunigen: der massive Aufbau einer EU-Infrastruktur, die Zentralisierung institutioneller und finanzieller Macht und eine Veränderung des Narrativs, das sich zunehmend auf europäische Werte und Souveränität konzentriert. Infolgedessen herrsche die EU zunehmend direkt über Territorien, Menschen, Märkte und politische Akteure, ohne dass dafür innerstaatliche Vermittler notwendig seien.

Prof. de Witte betonte, dass diese Machtverschiebung in erster Linie zugunsten der Exekutive, insbesondere der Kommission, der Europäischen Zentralbank und des Europäischen Rates, erfolge, während die Akteure der Legislative und der Judikative ins Abseits gedrängt würden. Am deutlichsten zeige sich die Zentralisierung im Finanzbereich, in dem unter anderem ein Politik-Mix aus Darlehen, Zuschüssen und gemeinsamer Kreditaufnahme möglich wurde.

Aber wenn die EU immer mehr Macht anhäuft, wie kann dies legitimiert werden? Auf der Grundlage von Charles Tillys Buch „Trust and Rule“ unterschied de Witte drei Herrschaftsformen: Zwang, Kapital und Verpflichtung. Während Zwang mit totalitären Systemen verbunden ist, wird Verpflichtung Demokratien zugeschrieben. Die Herrschaftsform des Kapitals kann zwischen diesen beiden Polen angesiedelt werden. In der EU muss man nicht lange nach gesetzlich verankerten Zwangsmechanismen suchen – sei es im Zusammenhang mit der Grenzsicherheit oder der digitalen Regulierung. Auch der Zwang durch Kapital ist eine gängige Methode der EU, um ihre Ziele zu erreichen und politische Ergebnisse zu sichern, insbesondere mithilfe von Konditionalitätsstrukturen. Beispiele hierfür sind die Ökologisierungs- und Digitalisierungsanforderungen in NextGenerationEU (NGEU) oder die Forderung nach einer Energiewende im Clean Industrial Act der EU.

Viel seltener ist in der EU jedoch ein Regieren durch Verpflichtung. Dies würde die Integration sogenannter Vertrauensnetzwerke in die institutionelle Struktur der EU erfordern. Vertrauensnetzwerke sind „informelle Netzwerke von Einzelpersonen, die für wichtige Aktivitäten voneinander abhängig sind, zum Beispiel Gewerkschaften“, erklärte de Witte und fügte hinzu: „Das Problem ist, dass die EU nicht weiß, wie sie Vertrauensnetzwerke integrieren soll.“ Er schlug zwei Wege vor, um eine Regierungsform basierend auf Verpflichtung zu etablieren: 1. Rückkehr zur indirekten Herrschaft und Erlaubnis von Zwangs- und Finanzhoheit durch innerstaatliche Vermittler; 2. eine radikale Demokratisierung der supranationalen Ebene zu Lasten der Mitgliedstaaten. Da beide Optionen gegenwärtig „unplausibel“ seien, stelle sich die Frage: Gibt es keine Alternative zu den Herrschaftsformen des Kapitals und des Zwangs? Möglicherweise schon. Die Geschichte habe gezeigt, dass Zentralisierung oft der Demokratisierung vorausgehe, erinnerte de Witte das Publikum. Die EU könne sich in Richtung "Regieren qua Verpflichtung" bewegen, indem sie Vertrauensnetzwerken eine klare Rolle innerhalb des institutionellen Gegüges zuweise.

In der anschließenden Diskussion wurde die Frage aufgeworfen, ob die EU wirklich Macht ausübe oder ob es nicht vielmehr um die Verschiebung von Geldern gehe. Die Idee von NGEU sei es gewesen, einen Mehrwert in der gesamten EU zu schaffen. Es habe sich aber zu einem Umverteilungssystem zwischen den Mitgliedstaaten ohne Leitlinie entwickelt. De Witte entgegnete, dass die EU nicht mehr als liberaldemokratisches Projekt angesehen werde, sondern dass ihre Politik viel formbarer und sensibler für die Interessen der Mitgliedstaaten geworden sei. Dies habe der EU mehr Stärke verliehen.

In Bezug auf das Argument einer Machtverschiebung wurde darauf hingewiesen, dass die Analysen darüber, wie weit die Zentralisierung gehen wird, unterschiedlich ausfallen. In vielen Politikbereichen, wie z. B. der Migration, gebe es im Hintergrund eine starke Interaktion zwischen den Mitgliedstaaten und der EU.

Abschließend wollte eine Teilnehmerin wissen, ob Tilly einen Vorschlag habe, wie man mit Unruhestiftern in der EU umzugehen habe. „Tilly hat nie über die EU als solche geschrieben“, räumte de Witte ein, „aber wenn man Unruhestifter kontrollieren will, muss man mehr Zwang ausüben.“ In diesem Zusammenhang müsse man sich bewusst sein, dass „es gefährlicher ist, draußen für Aufruhr zu sorgen als im Inneren“.