„Eine umfassende Reform sollten wir nicht anstreben“ | Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik - MPISOC
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13.05.2024 / Sozialrecht

„Eine umfassende Reform sollten wir nicht anstreben“

Dr. Uwe Corsepius, ehemaliger Leiter der Europaabteilung des Bundeskanzleramtes und früherer Generalsekretär des Rates und des Europäischen Rates in Brüssel, hielt am 29. April 2024 im Rahmen des Max Planck Hub Fiscal & Social State einen Vortrag über die europäische Reformdebatte.

 

Nahezu 30 Jahre hat Dr. Uwe Corsepius Europapolitik aus nächster Nähe erlebt und mitgestaltet. In seinem Vortrag „Die Europäische Reformdebatte – Anmerkungen aus der europapolitischen Praxis“ berichtete er vor rund 60 Gästen, welche Reformen er für geeignet hält, um den institutionellen Rahmen der EU an aktuelle geopolitische, wirtschaftliche, ökologische und soziale Herausforderungen anzupassen.

Corsepius‘ Vortrag war der zweite in der Reihe zur „Zukunft des Steuer- und Sozialstaates in der Europäischen Union“, die unter dem Dach des Max Planck Hub Fiscal & Social State stattfindet. Der Hub, eine Initiative des Max-Planck-Instituts für Sozialrecht und Sozialpolitik und des Max-Planck-Instituts für Steuerrecht und Öffentliche Finanzen, soll Perspektiven aus dem Sozialrecht sowie aus dem Steuerrecht im Rahmen der rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung zusammenführen.

Die Europäische Union: Zwischen Erweiterung und zentralen Reformen

Im Vorfeld der Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni 2024 und vor dem Hintergrund der angespannten geopolitischen Lage hat die Diskussion um Reformen an Fahrt gewonnen. Corsepius, der sich einen Namen als europapolitischer Berater der Bundeskanzlerin a.D. Angela Merkel gemacht hat, bezeichnete die Erweiterung als „ein Gebot für die Zukunft der EU“. Er betonte ihre Bedeutung, verwies aber auch auf die Konsequenzen, die etwa die Aufnahme der Ukraine nach sich zöge. So könnte die Aufnahme von Ländern wie den Staaten des Westbalkan, die bereits seit Jahren darauf warteten, nicht länger aufgeschoben werden, wenn ein Land wie die Ukraine dem Kreis der Mitgliedstaaten beitrete. Notwendig für eine erfolgreiche Erweiterung seien strukturelle und institutionelle Reformen der bestehenden EU. Sein Plädoyer lautete, in Zeiten geopolitischer Turbulenzen den Blick auf die machbaren Möglichkeiten zu richten. Dazu seien – neben den Erweiterungsverträgen – vereinfachte Verfahren geeignet.

Auch scheinbar einfache und einleuchtende Reformvorschläge, um die EU handlungsfähiger zu machen, wie die Reduzierung der bald 720 Sitze im Europäischen Parlament, seien schwierig, da kein Land bereit sei, Sitze abzugeben. Ungleich schwieriger sei es jedoch, die Anzahl der Kommissare und Kommissarinnen der Europäischen Kommission zu verringern, da insbesondere die kleineren Staaten nicht auf ihren Vertreter oder ihre Vertreterin verzichten wollten. Der weitreichendste Vorschlag, den Corsepius vorstellte, war der sogenannte "Doppelhut": die Personalunion der Präsidentin/des Präsidenten der Europäischen Kommission und dem/r Vorsitzenden des Europäischen Rats. So würde eine direkte Verbindung zwischen den Bürgern und Bürgerinnen und der Präsidentin/dem Präsidenten geschaffen. Allerdings würde diese Verbindung die Gewaltenteilung zwischen den Institutionen aushebeln. Der Schritt zu einem Präsidialsystem ginge zulasten des Europäischen Parlaments und des Europäischen Rates.

Mehr Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit?

Corsepius thematisierte in seinem Vortrag mehrmals die nationalen Interessen der Mitgliedsstaaten und die Schwierigkeit, diese unter dem Dach der EU zu vereinen. Die EU sei kein Staat, gleichzeitig aber mehr als eine einfache zwischenstaatliche Organisation, sagte Corsepius. In diesem Kontext ging er insbesondere auf Vorschläge ein, das Abstimmungsverfahren im Rat der Europäischen Union mit „qualifizierter Mehrheit“ auf weitere Sachverhalte auszudehnen. Kann es dazu beitragen, Entscheidungen über Steuern und eine gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu treffen? Bei der Abstimmung des Rats über einen Vorschlag der Kommission, gilt dieser als angenommen, wenn eine qualifizierte Mehrheit erreicht wird. Corsepius aber ist hier skeptisch: Warum sollen die Mitgliedstaaten in sensiblen Bereichen auf ihr Veto verzichten? Die Flüchtlingskrise und der europapolitische Umgang mit ihr haben gezeigt, was passiert, wenn Mitgliedsstaaten, die anderer Meinung sind als die Mehrheit, überstimmt werden: Es entstehen Richtlinien, die nicht von allen Mitgliedsstaaten umgesetzt werden.

Das Ideal einer Zusammenarbeit auf Augenhöhe

In seinem Vortrag und der anschließenden Fragerunde berichtete Corsepius Anekdoten aus seiner Zeit in Brüssel; wie schwierig es für ihn war, stundenlang vor der Tür, hinter der der Europäische Rat, das einzige Gremium, in dem die Staats- und Regierungschefinnen und -chefs mit dem Präsidenten oder der Präsidentin des Europäischen Rats und der Präsidentin der Europäischen Kommission alleine tagen, warten zu müssen. Und wenn sich die Tür öffnete und Angela Merkel auf ihn zukam und einen aktuellen Vorschlag besprechen wollte, musste er ihr eine Antwort geben ohne zu wissen, was im Einzelnen besprochen wurde. Auf die Frage einer Zuhörerin, ob es denn – angesichts der vielen Schwierigkeiten – auch etwas gebe, das in der EU gut funktioniere, nannte Corsepius eben diesen Europäischen Rat, die höchste Ebene der politischen Zusammenarbeit zwischen den EU-Ländern. Die Staats- und Regierungschefs- und chefinnen begegnen sich hier auf Augenhöhe und entscheiden über zentrale Fragen der Europäischen Union. Corsepius erklärte, dass dies die Art sei, wie er sich die Arbeitsweise einer europäischen Regierung vorstelle.

In Anbetracht der Unwägbarkeiten, die wohl jede zukünftige Reform der EU in Haushalt, Politiken und Institutionen begleiten wird, lieferten Corsepius‘ Anmerkungen aus der europapolitischen Praxis wichtige Impulse. Sein Fazit: „Die EU kann sich reformieren, doch sie muss sich auf zwei bis drei Aspekte konzentrieren, die realisierbar sind und zu etwas führen. Eine umfassende Reform sollte sie in dem herausfordernden politischen Umfeld nicht anstreben.“