Existenzsicherung in der Corona-Krise
Neue Studie des Max-Planck-Instituts für Sozialrecht und Sozialpolitik über aktuelle Maßnahmen zum Erhalt von Arbeit, Wirtschaft und sozialem Schutz
Die Corona-Pandemie stürzt die Wirtschaft weltweit in eine Krise. Für Deutschland wird ein BIP-Rückgang um 6,3% erwartet. In Italien könnten es nach Kommissionsprognosen gar 9,5% sein. Auch der Arbeitsmarkt gerät stark unter Druck. Um die Wirtschaft zu stabilisieren, Arbeitsplätze zu erhalten und Existenzen zu sichern, greifen Regierungen tief in die Tasche. Deutschland hat mit insgesamt 353,3 Milliarden Euro das größte Hilfspaket in seiner Geschichte aufgelegt. Ein Team von Rechtswissenschaftler/innen um Prof. Ulrich Becker, Direktor am Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik, hat die bis Ende April verabschiedeten wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen sowie sozialrechtlichen Maßnahmen der Krisenbekämpfung in fünf europäischen Ländern untersucht: Deutschland, Italien, Großbritannien, Frankreich und Dänemark. "Die aktuelle Situation hält dem Normalzustand den Spiegel vor, da bereits vorhandene Defizite beim sozialen Schutz besonders sichtbar werden. Über den Vergleich der Mittel zur Krisenbekämpfung hinaus kann unsere Studie auch dazu Anlass geben, sozialstaatliche Grundsatzfragen wie die Verteilung von Verantwortung zu diskutieren“, resümiert Ulrich Becker.
Die Studie zeigt Parallelen zwischen den fünf Ländern, aber auch teilweise aufschlussreiche Unterschiede. Eines der wichtigsten sozialpolitischen Instrumente sind die Kompensationen bei Kurzarbeit oder teilweiser Arbeitslosigkeit, um Arbeitsplätze zu erhalten. Dänemark hat entsprechende Leistungen sogar eigens neu geschaffen, und auch in England ist ein spezielles Programm vorgesehen, um Entlassungen zu vermeiden. Das führt in beiden Ländern nicht nur zu neuen Sozialleistungen, sondern auch zu einer teilweisen Abkehr von der bislang betonten arbeitsmarktpolitischen Flexibilität mit geringem Kündigungsschutz. Überall wird auch der Zugang zu Leistungen bei Arbeitslosigkeit erleichtert. Aktivierungsmaßnahmen und Sanktionen wurden in allen Vergleichsländern ganz oder weitestgehend ausgesetzt. Sehr unterschiedlich gehen die Staaten hingegen bei der arbeitsrechtlichen Flankierung des Arbeitsplatzschutzes vor: Während in Deutschland und England darauf verzichtet wurde, haben Dänemark und Frankreich spezielle Urlaubsregelungen und Italien einen Sonderkündigungsschutz eingeführt.
Um die Wirtschaft zu stabilisieren, gewähren alle fünf Länder Unternehmen Steuererleichterungen, Kredite zu günstigen Bedingungen und die Möglichkeit, Sozialversicherungsbeiträge zu stunden. Selbständige und kleinere Unternehmen erhalten zudem Geldleistungen, mit denen Schäden, die durch die Krisenbekämpfung entstehen, ausgeglichen werden. Deren Höhe ist von Land zu Land unterschiedlich; sie knüpfen an nicht gedeckte Betriebskosten (Deutschland, Dänemark), an Gewinn‑ oder Umsatzeinbußen (England, Frankreich) bzw. dem Verdienstausfall (Italien) an. In der Sache übernehmen die Staaten damit eine Verantwortung für die Schadensverursachung. Damit bestätigt sich der Grundsatz, dass Zeiten von Katastrophen Zeiten des sozialen Entschädigungsrechts sind, in denen andere wirtschaftspolitische Ziel zurückstehen.
Erleichterungen und zum Teil Verbesserungen gibt es auch beim Bezug von Leistungen der Grundsicherung. Hier zeigen sich jedoch sozialpolitische Widersprüche: Einerseits sollen die von der Rezession Betroffenen nach Möglichkeit nicht auf diese Hilfe angewiesen sein, weshalb Sonderleistungen eingeführt werden. Andererseits wird der Zugang zur Grundsicherung erleichtert, womit deren Hauptmerkmal, Bedürftigkeit als Leistungsvoraussetzung, vorübergehend wegfällt. Konsequent verfährt hier am ehesten das Vereinigte Königreich, das die bestehenden Lücken im sozialen Schutz durch eine wesentliche und allgemeine Aufstockung des Universal Credit ausgleicht: Dessen Regelsatz für einen Alleinstehenden beträgt seit dem 6. April knapp 460 Euro statt vormals 355 Euro im Monat.
Insgesamt zeigt sich in der Corona-Krise: Krisenzeiten decken sozialpolitische Defizite auf. Weil sie zu einfachen und schnellen Lösungen tendieren, sind sie wenig geeignet, um grundlegende Entscheidungen zur besseren Ausrichtung und Abstimmung von Sozialleistungen zu treffen. Krisen geben aber vielfältige Anstöße, um nach ihrer Bewältigung Grundfragen der Sozialstaatlichkeit neu zu diskutieren.
Die Ergebnisse der Studie "Existenzsicherung in der Coronakrise: Sozialpolitische Maßnahmen zum Erhalt von Arbeit, Wirtschaft und sozialem Schutz im Rechtsvergleich" sind jetzt in Band 6 der Reihe working papers law des Instituts erschienen.
Bei Fragen oder Interview-Wünschen wenden Sie sich bitte an Dr. Julia K. Hagn, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Tel: 089/38602428, Email: hagn (at) mpisoc.mpg.de