„Die Regel, nur europäische Staaten aufzunehmen, ist illegitim“
Nichts Geringeres als die Grundfesten der Europäischen Union wurden von Andrea Sangiovanni, Professor für Philosophie am King's College London, in seinem Vortrag „Die EU schließt nichteuropäische Länder vom Beitritt aus: Ist das richtig?“ in Frage gestellt. Die Antwort, die er gab, war provokativ und wurde heiß diskutiert: Es ist nicht richtig. Vielmehr ist die Regel, dass nur Europäer aufgenommen werden, illegitim. Sangiovannis Vortrag war Teil der Vortragsreihe "Die Zukunft des Steuer- und Sozialstaates in der Europäischen Union", die vom Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik und dem Max-Planck-Institut für Steuerrecht und Öffentliche Finanzen organisiert wird.
Seine Argumente waren vielfältig und stützten sich auf sehr unterschiedliche Ansätze: Erstens habe die Vereinigungsfreiheit Grenzen – wie dies von jeder Demokratie anerkannt würde, so Sangiovanni. Insbesondere internationale Organisationen wie die EU seien der Öffentlichkeit gegenüber rechenschaftspflichtig. Im Gegensatz zu Einzelpersonen hätten sie keine privaten oder expressiven Interessen an Vereinigungen, die die Gründung eines exklusiven „Clubs der Staaten“ rechtfertigen würden.
Zweitens könne die Regel, die nur Europäer ausschließt, als ungerechtfertigt diskriminierend angesehen werden, so Sangiovanni, und verglich sie mit einer australischen Politik, die versuchte, die Niedriglohnmigration nach Australien zu unterbinden, indem Nicht-Europäern die Einwanderung verboten wurde. In diesem Zusammenhang betonte Sangiovanni, dass es bei Diskriminierung um soziale Unterordnung gehe. Um festzustellen, was als soziale Unterordnung gelte, müsse man sich die sozialen Bedeutungen genauer ansehen.
Drittens habe die soziale Bedeutung der Regel, dass nur Europäer in die EU aufgenommen werden, ihre Grundlage insbesondere in zwei Komponenten des europäischen Erbes: dem Christentum (im Unterschied zum Islam) und – infolge der Aufklärung – im Anspruch auf Überlegenheit der Zivilisation (gegenüber der Barbarei) und der weißen Rasse (gegenüber anderen Rassen. Beide seien diskriminierend. Als Beweis führte Sangiovanni eine Stellungnahme der Europäischen Kommission zum Antrag Zyperns auf Mitgliedschaft in der EU an, in der die Kommission argumentierte, dass Zypern „an der Quelle der europäischen Kultur und Zivilisation“ stehe. Ungeachtet der Tatsache, dass es sich um ein geteiltes und daher teilweise muslimisches Land handelt, sei es das christliche Erbe gewesen, das seine Mitgliedschaft gesichert habe, erklärte Sangiovanni.
Er wies auch den Wunsch, die Kultur zu schützen, als stichhaltiges Argument zur Rechtfertigung der Ausschlussregel zurück. „Was bringt es, eine europäische Kultur zu schützen?“, fragte er. "Europa ist keine Nation." Ferner ließe sich zwar argumentieren, dass geografische Nähe notwendig ist, um die nationale Verteidigung zu sichern. Wie das Beispiel der NATO zeige, sei dies jedoch keine zwingende Voraussetzung, betonte Sangiovanni. Darüber hinaus würden auch Staaten wie Kanada die sogenannten Kopenhagener Kriterien erfüllen, denen Beitrittskandidaten genügen müssen, um Vollmitglied der EU zu werden. Da die EU somit eher ein kulturelles, soziales und politisches Projekt sei und nicht nur ein geographisches, sollte sie danach streben, eine „kosmopolitische Organisation“ zu sein.
In der anschließenden lebhaften Diskussion warf Prof. Ruth Mason von der University of Virginia School of Law, USA, die Frage auf, ob Sangiovanni sich auf ein moralisches oder ein rechtliches Argument stütze und – wie auch andere Teilnehmer fragten – ob eine Argumentation auf Makroebene mit einem Argument auf individueller (Mikro-)Ebene gerechtfertigt werden könne. Sangiovanni stellte in seiner Antwort klar, dass es sich um ein moralisches Argument handele, das mithilfe von Rechtsfällen untermauert werde. Hinsichtlich der zweiten Frage entgegnete er, dass Souveränität unabhängig von der Untersuchungsebene ihre Grenzen habe, wenn Antidiskriminierungsrechte betroffen seien.