Angesichts des Anstieges von Armut und Ungleichheit in Lateinamerika wurden in den 1990er Jahren Sozialhilfeprogramme zur direkten Unterstützung finanziell schwacher Haushalte eingeführt. Aufgrund der geringen Abdeckung der Erwerbsbevölkerung durch die Sozialversicherung gilt die Sozialhilfe in der Region als das primäre Instrument der sozialen Sicherung. In der Tat leben ein erheblicher Teil der Arbeitskräfte und ihre Familien von geringfügiger und informeller Beschäftigung und haben keinen Zugang zu Sozialleistungen.
Die Entwicklung der Sozialhilfeprogramme ist ein wichtiger Gegenstand im gegenwärtigen Sozialrecht der lateinamerikanischen Staaten und hat im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie noch an Bedeutung gewonnen. Dabei steht die Verwirklichung des zentralen Zieles eines jeden Sozialleistungssystems im Vordergrund: dem Einzelnen das Notwendige zur Sicherung seiner Existenz zu gewähren. Im Grunde haben sich nahezu alle Staaten durch internationale Menschenrechtskonventionen dazu verpflichtet, Sozialleistungen zur Verfügung zu stellen, die ein Existenzminimum gewähren und ein menschenwürdiges Leben sicherstellen. Auch wenn sich diese Leistungen in den nationalen Rechtssystemen der Region unterscheiden, haben viele lateinamerikanische Länder seit 2010 ihre Sozialhilfepolitik ausgeweitet und beitragsunabhängige Systeme entwickelt, um für ihre Staatsangehörigen einen angemessenen Lebensstandard zu sichern.
Bei der aktuellen Ausgestaltung der Sozialhilfeprogramme bestehen jedoch Hindernisse in Bezug auf die Verfahrensmechanismen zur Durchsetzung von Sozialleistungen. Die besonderen Regeln über die Zugänglichkeit, das Verfahren und die Prozessvertretung bei der gerichtlichen Durchsetzung können Barrieren darstellen, die einen effektiven Rechtsschutz unterlaufen. Umstritten ist auch, inwieweit die traditionellen Verfahrensmechanismen zur Durchsetzung sozialer Leistungen angemessen sind und ob durch das Fehlen konkreter verfahrensrechtlicher Instrumente Nachteile für die Leistungsberechtigten entstehen. Insbesondere die Frage, ob Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums rechtlich durchsetzbar sind, ist für diese Region nur in geringem Umfang erforscht. Die vorliegende Dissertation konzentriert sich daher auf die Analyse des Rechtsanspruchs auf ein Existenzminimum in Lateinamerika.
Zunächst wird historisch und theoretisch geklärt, was unter dem Begriff "Existenzminimum" zu verstehen ist, um seine Bedeutung als Instrument der sozialen Sicherung zu erfassen und eine dogmatische Basis für die Untersuchung zu schaffen. Anschließend wird der rechtliche Rahmen auf internationaler und regionaler Ebene erläutert, der die Staaten verpflichtet, ein Existenzminimum zu garantieren, sowie die Art und Weise, in der der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte dieses Konzept und die damit verbundenen Rechte interpretiert hat.
Darüber hinaus werden die Grundlagen der Sozialschutzsysteme in Lateinamerika herausgearbeitet, einschließlich des Konzepts des Sozialschutzes, der Rolle der Sozialhilfeprogramme und der institutionellen Struktur. Es folgt die Darstellung und theoretische Einordnung der in den lateinamerikanischen Rechtsordnungen bestehenden Sozialleistungen zur Sicherung des Existenzminimums, wobei nur steuerfinanzierte Sozialleistungen und staatlich garantierte Leistungen betrachtet werden. Die Studie zieht hierfür die zehn lateinamerikanischen Länder mit der höchsten Wirtschaftsleistung gemessen am BIP heran, nämlich: Chile, Panama, Argentinien, Uruguay, Mexiko, Brasilien, Costa Rica, Dominikanische Republik, Kolumbien und Peru.
Der letzte Teil befasst sich mit der Frage, ob diese Leistungen rechtlich einklagbar sind. Zunächst wird ein Überblick über die Instrumente für den rechtlichen Schutz von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts sowie über die Gründe für ihre begrenzte Durchsetzung gegeben. In diesem Zusammenhang erfolgt auch eine Auswertung der Argumentationslinien der Rechtsprechung zu den Leistungen zum Lebensunterhalt. Auf der Grundlage der Rechtsprechung in vier Ländern, in denen Fälle den zuständigen Gerichten vorgelegt wurden, wird - abgesehen von den Sozialleistungen für den Zugang zu Gesundheitsdiensten - eine Systematisierung der durchsetzbaren Ansprüche vorgenommen. Die abschließende Analyse soll klären, ob es prozessuale Möglichkeiten zur Durchsetzung dieser Ansprüche gibt und ob damit ein Rechtsanspruch auf ein Existenzminimum besteht.