Das Forschungsprojekt "European Welfare State Constitutions After the Financial Crisis" begann im Januar 2017 und wurde Ende 2020 abgeschlossen. Das Ergebnis ist ein Sammelband über die Reformen der Sozialleistungen in europäischen Ländern, die besonders stark von der Finanzkrise betroffen waren. Das Buch erschien im November 2020 bei Oxford University Press.
Infolge der 2008 ausgebrochenen europäischen Finanzkrise baten einige Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) um finanzielle Unterstützung durch andere Mitglieder der Europäischen Währungsunion (EWU), durch die neu geschaffenen europäischen Hilfsmechanismen (EFSM, EFSF, ESM) und den Internationalen Währungsfonds (IWF). Als Bedingung für die finanzielle Unterstützung mussten die betreffenden Staaten Strukturanpassungsprogramme verabschieden, die unter anderem auf die Senkung der öffentlichen Ausgaben abzielten. Insbesondere die Kosten für Sozialleistungen und die öffentliche Gesundheitsfürsorge wurden als stark belastend für das makroökonomische Gleichgewicht der öffentlichen Haushalte angesehen. Die weitreichenden Reformen im Bereich der sozialen Sicherheit und der Sozialhilfe wurden von den Betroffenen in vielen Fällen als Verletzung ihrer Menschenrechte empfunden, die sie vor nationalen und internationalen Gerichten einzuklagen versuchten. Infolgedessen haben viele nationale Verfassungsgerichte, der Gerichtshof der EU sowie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Reihe von Urteilen über die Vereinbarkeit der während der Krise der Eurozone eingeleiteten Reformen des Sozialschutzes mit den Menschenrechten erlassen.
Angesichts der zunehmenden Besorgnis über die Auswirkungen der Kürzungen von Sozialleistungen auf die Wahrung der Menschenrechte hat die Abteilung für ausländisches und internationales Sozialrecht des Max-Planck-Instituts für Sozialrecht und Sozialpolitik einen Sammelband erarbeitet, der eine systematische Analyse der Konsequenzen der jüngsten Finanzkrise und der von den internationalen Gläubigern auferlegten Bedingungen auf die nationalen Sozialversicherungssysteme bietet. Für die Realisierung dieses Projekts haben wir eine Gruppe von renommierten Rechtswissenschaftler/innen, Expert/innen für Sozialversicherungsrecht und Menschenrechte aus den jeweiligen neun europäischen Ländern, die von der Finanzkrise stark betroffen waren, eingeladen. Letztere können in drei verschiedene Gruppen unterteilt werden: Erstens die nicht der Eurozone angehörenden Mitgliedstaaten (Ungarn, Lettland und Rumänien), die von der EU, dem IWF und der Weltbank finanzielle Unterstützung in Form von Zahlungsbilanzhilfen erhalten haben, die an die Konditionalität der Strukturreformen gebunden waren. Diese Länder sind von besonderem Interesse, da sie zu einem großen Teil als Präzedenzfälle für die Rettung von Mitgliedern der Eurozone dienten. Zweitens die Bailout-Länder, die Mitgliedstaaten der WWU sind und ein wirtschaftliches Anpassungsprogramm absolviert haben, nämlich Griechenland, Irland, Portugal und Zypern. Drittens sind auch Italien und Spanien von großem Interesse. Obwohl in beiden Ländern die Maßnahmen zur Krisenbewältigung nicht offiziell von supranationalen Organisationen vorgeschrieben wurden, erhielten die nationalen Regierungen Anweisungen, die auf die Kürzung von Sozialleistungen abzielten. So setzte die EZB beispielsweise Italien informell stark unter Druck, die öffentlichen Ausgaben zu kürzen, während Spanien vom ESM finanzielle Unterstützung für die Rekapitalisierung seines Bankensektors erhielt.
Mit diesem Projekt wurde ein doppeltes Ziel verfolgt: (a) jene krisenbedingten Reformen im Bereich des Sozialschutzes zu dokumentieren und zu systematisieren, die sich auf Altersleistungen, Sozialhilfe, Arbeitslosenunterstützung und Gesundheitsfürsorge beziehen, (b) die Reformen im Bereich des Sozialschutzes in den verfassungsrechtlichen Rahmen der einzelnen Länder einzubetten, indem untersucht wird, wie sich die Anwendung des Verfassungsrechts während der Krise verändert hat und welche Auswirkungen dieser Wandel auf die untersuchten Sozialstaaten und ihre Verfassungen hatte.
Um ihre Ziele zu erreichen, befasste sich die vergleichende Studie mit vier verschiedenen rechtlichen Forschungsfragen: (1) Was waren die wichtigsten Reformen, die nach der Wirtschafts- und Finanzkrise in den nationalen Systemen der sozialen Sicherheit eingeführt wurden? (2) Welchen Hintergrund hatten die Reformen und wie wurden sie durch das Krisenmanagement beeinflusst? (3) Welche Menschenrechte und Verfassungsgrundsätze waren von diesen Gesetzesreformen betroffen und wie haben sich die nationalen Gerichte während der Krise mit Grundrechtsfragen befasst? (4) Haben die Finanzkrise und die von den Gläubigern auferlegte Konditionalität die Verfassungsdoktrin der betroffenen Länder beeinflusst und, wenn ja, in welchem Ausmaß?
Durch die detaillierte Analyse der Fallbeispiele will der Sammelband einen Beitrag zur globalen Diskussion über die Auswirkungen der Maßnahmen zur Bekämpfung der Finanzkrise auf die Systeme der sozialen Sicherheit leisten. Da wir ab 2020 eine neue Krise erleben, besteht das Ziel des Buches auch darin, Lehren aus der Finanzkrise zu ziehen, insbesondere im Hinblick auf die Kürzung von Leistungen der sozialen Sicherheit. Nicht zuletzt bietet der Sammelband durch die Abdeckung eines breiten Spektrums an nationalen Reformen der sozialen Sicherheit sowie der nationalen Rechtsprechung eine reichhaltige vergleichende Studie und kann als rechtliche Plattform für die Bewertung der verschiedenen nationalen Reaktionen auf die Finanzkrise dienen. In diesem Sinne ist er nicht nur ein hilfreiches Instrument für Rechtswissenschaftler/innen, sondern auch für Anwälte und Anwältinnen auf der Suche nach soliden Rechtsgrundlagen für den Schutz von Personen, die von Reformen der sozialen Sicherheit betroffen sind, sowie für nationale und internationale Richter/innen, die mit Fällen konfrontiert sind, die die Rechtmäßigkeit und Legitimität der Reformen in Frage stellen.