Sozial- und arbeitsrechtliche Stellung von „neuen“ Selbstständigen | Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik - MPISOC
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Modernisierung des Sozialstaats

Sozial- und arbeitsrechtliche Stellung von „neuen“ Selbstständigen

Charakteristisch für die Plattformökonomie ist insbesondere die neue Beschäftigungsform der „Plattformarbeit“. Diese Beschäftigungsform kombiniert die Merkmale von Lohnarbeit und selbstständiger Tätigkeit: Mit algorithmischen, marktbezogenen und organisatorischen Kontrollmechanismen können Plattformen die Arbeit von Plattformbeschäftigten überwachen und organisieren. Gleichzeitig bewerben Plattformbetreiber/innen diese Art der Beschäftigung mit der Autonomie hinsichtlich der Bestimmung von Ort und Zeit der Arbeit. Auf diese Weise können sie deren Einordnung als Arbeitsverhältnis umgehen und zu einer raschen Verbreitung von Scheinselbstständigkeit beitragen. Neue Beschäftigungsformen stellen das abhängige Beschäftigungsmodell in Frage, das durch persönliche Abhängigkeit von einem/r Arbeitgeber/in gekennzeichnet ist und nicht nur die Grundlage für die Aufnahme in den Geltungsbereich des Arbeitsrechts, sondern auch für die Aufnahme in das Sozialversicherungssystem bildet.

Das Hauptziel des 2018 gestarteten Projekts besteht darin, das Phänomen der Plattformarbeit aus arbeitsrechtlicher und sozialrechtlicher Perspektive zu untersuchen und mögliche Lösungen für eine Ausweitung des sozialen Schutzes auf Personen in neuen Beschäftigungsformen zu beleuchten.

Das Forschungsprojekt lässt sich in drei Teile gliedern. Das erste Teilprojekt befasst sich mit der Analyse grundlegender Aspekte der Plattformarbeit als neuer Beschäftigungsform. Zu prüfen ist zunächst, ob die Plattformarbeit und das Geschäftsmodell der Online-Arbeitsplattformen im Vergleich zu bereits bestehenden atypischen Beschäftigungsformen etwas Neues mit sich bringen. Die zentrale Frage ist, ob bei der Plattformarbeit (abgesehen von persönlicher und wirtschaftlicher Abhängigkeit) eine neue Art der Abhängigkeit in Bezug auf Plattformanbieter/innen oder Kund/innen entsteht. Daher werden die Merkmale der Abhängigkeit von Plattformbeschäftigten mit denen von Personen in anderen atypischen Beschäftigungsformen verglichen sowie Gerichtsentscheidungen zur Einordnung von Plattformbeschäftigten (vor allem Taxifahrer und Kuriere) analysiert. Die Prüfung beinhaltet auch eine kritische Bewertung empirischer Studien und praktischer Befunde. Aufgrund der Heterogenität von Plattformbeschäftigten, Typen von Plattformarbeit und Plattformen sowie aufgrund unterschiedlicher Strategien hinsichtlich der Zuweisung von Aufgaben (von der Plattform, vom Kunden oder vom Beschäftigten zugeteilt) ist es nicht möglich, ein einziges Abhängigkeitsmuster zu definieren. Die neue Dimension der Abhängigkeit ist gekennzeichnet durch „kontrollierte Autonomie“, unsichtbare algorithmische Kontrolle sowie Managementkontrolle, finanzielle und organisatorische Anreize durch Plattformen, Bewertungs- und Empfehlungssysteme, Informationsasymmetrien, eine neue Form der Integration in die „Arbeitsorganisation“ und eine Strategie des „overstaffing“. In der Summe lässt sich eine neue Art von Abhängigkeit erkennen, die durch eine Mischung von wirtschaftlicher, algorithmischer und persönlicher Abhängigkeit gekennzeichnet ist.

Der zweite Teil des Projekts befasst sich mit der Frage, welche Mechanismen genutzt werden, um Plattformbeschäftigte, die häufig als Selbständige eingeordnet sind und keinen Zugang zum sozialen Schutz haben, in die Systeme der sozialen Sicherheit zu integrieren. Hierbei werden zum einen verschiedene bestehende Strategien zur Ausweitung des Zugangs zu Sozialversicherungssystemen für „Nichtbeschäftigte“ erläutert. Zum anderen werden innovative Strategien für Plattformarbeiter/innen sowie deren Vorteile und Nachteile untersucht. In vielen europäischen Ländern sehen Sozialversicherungssysteme unterschiedliche Mechanismen zur Ausweitung der sozialen Absicherung auf Nichtbeschäftigte (vor allem Selbstständige) vor, indem der soziale Schutz vom Beschäftigungsstatus getrennt wird. Einige der entwickelten gesetzgeberischen Lösungen ermöglichen eine Differenzierung des Schutzniveaus je nach Grad der wirtschaftlichen Abhängigkeit der Beschäftigten vom Auftraggeber. Die Heterogenität von Plattformbeschäftigten erfordert flexiblere und genauere Lösungen. Innovative Strategien zur Ausweitung des sozialen Schutzes versuchen, neue Gruppen von Erwerbstätigen, insbesondere Plattformbeschäftigte, zu erfassen. Gleichzeitig werden „klassische“ Strategien zur Ausweitung des sozialen Schutzes auf „Nichtbeschäftigte“ an neue Beschäftigungsformen angepasst.

Das dritte Teilprojekt befasst sich mit den Herausforderungen, die neue Beschäftigungsformen für das Arbeits- und Sozialrecht in Russland darstellen. Dabei werden zum einen Optionen für den Arbeitsschutz von Plattformbeschäftigten in Russland herausgearbeitet. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass Plattformbeschäftigte auch in Russland in Rechtsprechung und in Praxis als selbstständig eingeordnet sind, wird ihre Situation aus sozial- und steuerrechtlicher Perspektive untersucht. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass der Gesetzgeber in den letzten zwei Jahrzehnten versucht hat, die informelle Arbeit, die in Russland ein großes Problem darstellt, zu bekämpfen, indem er privilegierte Steuerregelungen für Selbstständige eingeführt hat. Daher wird der Zugang zu sozialem Schutz für Selbstständige zunächst im Allgemeinen und dann im Besonderen für solche Selbstständigen analysiert, die von den privilegierenden Steuerregelungen Gebrauch machen. Hierbei wird der komplexe Zusammenhang zwischen arbeits-, sozial- und steuerrechtlichen Vorschriften beleuchtet. Seit der Einführung der Regelung über die Steuer auf selbstständiges Berufseinkommen wurde eine neue Kategorie von versicherten Personen im Sozialrecht geschaffen. Es handelt sich um eine Mischung zwischen einem privilegierten Steuerregime und einer Beschäftigungskategorie im Sinne des Sozialversicherungsrechts. Ein Weg, um die Situation der Plattformbeschäftigten zu verbessern, wird in der Koordinierung gesetzgeberischer Maßnahmen und Reformen im Arbeits-, Sozial- und Steuerrecht gesehen.

Ansprechpartner
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Olga Chesalina, Kand. d. Rechtswissenschaften (Minsk), LL.M.

Publikationen

Chesalina, Olga:
Platform Work as a New Form of Employment: Implications for Labour and Social Law, in: Wratny, Jerzy; Ludera-Ruszel, Agata (Hrsg.), New Forms of Employment, Wiesbaden 2020, S. 153–167.

Chesalina, Olga:
Extending Social Security Schemes for “Non-Employees”: A Comparative Perspective, in: ZIAS, (2020) 1, S. 2-12.

Chesalina, Olga:
Digital Platform Work in the Russian Federation, in: Zeitschrift für ausländisches und internationales Arbeits- und Sozialrecht, (2019) 1, S. 18-29.

Chesalina, Olga:
Access to social security for digital platform workers in Germany and in Russia: a comparative study, in: Spanish Labour Law and Employment Relations Journal, 7 (2018) 1-2, S. 17-28.