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Max-Planck-Partnergruppe

Recht und sozialer Schutz für indigene Völker in Lateinamerika

Dr. Lorena Ossio Bustillos (vorne Mitte), Leiterin der Max-Planck-Partnergruppe, mit ihrem Team an der Katholischen Universität von Bolivien in La Paz.
Dr. Lorena Ossio Bustillos (vorne Mitte), Leiterin der Max-Planck-Partnergruppe, mit ihrem Team an der Katholischen Universität von Bolivien in La Paz.

Das Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik hat im Februar 2021 eine internationale Max-Planck-Partnergruppe mit der Katholischen Universität von Bolivien in La Paz gegründet. Unter der Leitung von Dr. Maria Virginia Lorena Ossio Bustillos untersucht ein Team von Rechtswissenschaftler/innen die Bedeutung von Sozialgeldtransfers für die Armutsbekämpfung, insbesondere im Hinblick auf die indigene Bevölkerung.

Empfehlung Nr. 202 der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) fordert Staaten auf, dafür zu sorgen, dass die nationalen Strategien der sozialen Sicherheit "Unterstützung für benachteiligte Gruppen und Menschen mit besonderen Bedürfnissen" gewährleisten. Im Zuge der Bemühungen, diese Empfehlung in nationale Programme umzusetzen, haben sich in Lateinamerika seit Ende der 1990er Jahre Sozialschutzmaßnahmen wie "Sozialgeldtransfers" verbreitet. Sozialgeldtransfers sind regelmäßige, beitragsunabhängige Zahlungen des Staates, die armen Haushalten den Lebensunterhalt sichern, meist als bedarfsabhängige Leistung. Angesichts des hohen Armutsniveaus in lateinamerikanischen Ländern mit einer hohen Zahl benachteiligter Menschen oder solchen ohne sozialen Schutz werden "Sozialgeldtransfers" als eine neue Form der sozialen Sicherheit für den globalen Süden angesehen. Trotz der Bedeutung dieser Maßnahme wurden bisher nur wenige Fallstudien durchgeführt, die dieses Transfersystem näher beleuchten, insbesondere unter Berücksichtigung anderer bestehender Leistungen und der Art und Weise, in der verschiedene indigene Gruppen darin einbezogen werden. Das Forschungsprojekt der Partnergruppe will diese Lücke schließen und untersucht, wie durch die Existenz paralleler Systeme und deren mangelnde Koordinierung Ungleichbehandlung entstehen kann.

Zu diesem Zweck wurden die Sozialleistungen für die indigene Bevölkerung in Ecuador, Peru und Bolivien analysiert und mit den Sozialleistungen für andere sozial benachteiligte Gruppen in diesen Ländern verglichen. Die Auswahl der Länder erfolgte aufgrund ihrer gemeinsamen Rechtsgeschichte und ihrer unterschiedlichen nationalen Sozialschutzprogramme für die genannten Zielgruppen. Besonderes Augenmerk wurde auf die Analyse wegweisender Gerichtsurteile und Sozialtransferprogramme sowie auf die rechtliche Argumentation hinsichtlich des Gleichheits- und Nichtdiskriminierungsgrundsatzes in den ausgewählten Ländern gelegt.  

Unsere These lautete, dass die Nichtbeachtung des Rechtspluralismus in den Andenländern im Bereich der Sozialleistungen zum Ausschluss von Leistungen führt. Anders verhielt sich das jedoch im Fall einer Frau der Ethnie Machiguenga  in Poyentimari (Peru). Sie stellte nach dem Tod ihres Mannes, eines zweisprachigen Lehrers, bei der Regionalregierung von Madre de Dios (GOREMAD) einen Antrag auf Zahlung einer Witwenrente. Die Antwort der GOREMAD war negativ, da die Antragstellerin weder eine standesamtliche Heiratsurkunde vorweisen konnte, die ihre eheliche Verbindung gemäß den Anforderungen des Zivilgesetzbuches und des Standesamts bestätigte, noch ein Gerichtsurteil, das eine faktische Verbindung oder ein Konkubinat anerkannte.

Die Versammlung der Machiguenga in Poyentimari stellte in Ausübung ihrer indigenen Rechtsprechungsbefugnisse fest, dass die antragstellende Witwe und ihr Ehemann tatsächlich 40 Jahre lang in einer eheähnlichen Gemeinschaft gelebt und sieben Kinder gezeugt hatten und dass sie daher den Status einer Witwe und damit Anspruch auf eine Witwenrente hatte. Die Versammlung tat dies vor dem Hintergrund der Auslegung der indigenen Rechtsprechung und des Gewohnheitsrechts gemäß Artikel 149 der peruanischen Verfassung.

Der Vertreter der Versammlung Machiguenga teilte diese Entscheidung der GOREMAD mit, die jedoch weiterhin die Zahlung der Witwenrente verweigerte. Daraufhin reichten die Betroffene und der Vertreter der Machiguenga Klage ein. Diese wurde zunächst abgewiesen und ging bis vor das Verfassungsgericht. Das Verfassungsgericht ordnete die Prüfung des Falles an. Am 26. Februar 2020 fällte das Zivilgericht von Tambopata des Obersten Gerichtshofs von Madre de Dios ein Urteil, das die Amparo-Verfahren (Verfassungsbeschwerde) des indigenen Volkes der Machiguenga gegen die Regionalregierung von Madre de Dios (GOREMAD) für begründet erklärte.

Es hat sich gezeigt, dass auch in Bolivien eine ähnliche Entwicklung der Rechtsprechung in Bezug auf die Rechte indigener Völker und den Gleichheitsgrundsatz zu beobachten ist und dazu führt, dass die indigenen Gerichtsbarkeiten gegenüber der staatlichen Gerichtsbarkeit sogar vorrangig sein können. Die indigene Gerichtsbarkeit kommt damit auch bei Streitigkeiten über Sozialleistungen zur Anwendung.

Die Ergebnisse der Analyse der Gerichtsurteile und der Datenbankrecherche wurden in einem Buch mit dem Titel Jurisprudencia Constitucional Plurinacional y Jurisprudencia Multicultural (Documentos de consulta del proyecto prestaaciones sociales para los pueblos indígenas en América Latina) im Mai 2023 auf Spanisch veröffentlicht. Ein weiteres Buch, Derecho y Sistema de prestaciones sociales para los pueblos indígenas en América Latina, das die ausgewählte Literatur untersucht, erschien im November 2023. Darüber hinaus entstand im Rahmen der Partnergruppe eine Publikation über die Grundlagen des Sozialrechts aus rechtsvergleichender Perspektive (Derecho social inclusión y protección social), die verschiedene Fragen zum historischen Verständnis des Sozialstaats und der Rechtsstaatlichkeit im Globalen Norden und Globalen Süden behandelt.

Von besonderer Bedeutung für die Durchführung des internationalen Projekts an der Katholischen Universität von Bolivien war der wissenschaftliche Austausch im Rahmen der jährlichen Konferenzen der Law and Society Association in Lissabon 2022 und Puerto Rico 2023. Bei beiden Konferenzen organisierte Lorena Ossio ein Panel, an dem 2022 auch Renzo Honores, Leonardo Villafuerte und Ingrid Schneck, ebenfalls akademische Mitglieder der Gruppe, teilgenommen haben. Im Folgejahr war  unter anderem die Wissenschaftlerin Raquel Yrigoyen aus Peru ein Panelgast.